Auf die Anweisung, das als Leseprobe eingereichte Kapitel noch einmal vorzulegen, zudem das gesamte Manuskript zu beschaffen und den Verfasser des Plagiats einzubestellen, reagierte Dr. Schneider verwundert: „Ich dachte, Sie hielten die Leseprobe für unwürdig, nur noch einen Deut weiter gelesen zu werden.“
Bebend schaute Hartmann seinem alten Weggefährten in die Augen. „Solchen Dieben, lieber Doktor Schneider, muss das Handwerk gelegt werden. Und zwar ein für alle Mal! Wenn Sie meine Nacht erlebt hätten, würden Sie verstehen, dass nur die persönliche und direkte Auseinandersetzung mit diesem Betrüger wenigstens ein Mindestmaß befriedigender Genugtuung und nachhaltiger Abstrafung verschafften kann. Schließlich will ich wieder wenigstens einigermaßen schlafen können. Also her mit dem gesamten Manuskript, damit ich diesem Verbrecher der Schöpfungshöhe die Gesamtheit seiner widerlichen Taten nachweisen und um die Ohren hauen kann! Und laden Sie den Kerl in 14 Tagen zu mir ein! Das Sekretariat soll einen frühen Vormittagstermin suchen, damit der Lump möglichst früh aufstehen muss.“
Hartmann wusste aus der Fußzeile des Manuskripts, dass der Verfasser, ein unbekannter Autor namens Gernot Lammroth, in Berlin beheimatet war, und richtig viel zu tun haben würde, an einem frühen Vormittag in Gütersloh, dem Hauptsitz des Konzerns, zu erscheinen.
Vierzehn Tage später stand der Täter vor ihm. Der Dieb teuerster Literatur. Der Räuber wertvollster Dichtkunst. Der Mann, der Hartmann um den Schlaf gebracht hatte. Von Wuchs schien der Mann nicht gerade groß, vielleicht um die 1 Meter 70. Ein kleiner Wicht, urteilte der Verlegerkönig. Dazu die aus Hartmanns Sicht wirklich gräuliche Kleidung: braune Cordhose, ein verwaschener, ehemals wohl gelber Pollunder, darüber auf einem karierten Hemd ein abgestoßener Kragen, der unter einem beigefarbenen, mindestens 30 Jahre alten Sakko einen runden Kopf ohne Hals hielt. Die langsam ausgehenden Haare hatte der Besucher sorgsam nach links gekämmt. Wohl um Ordnung bemüht, dachte sich Hartmann, und um den Anschein eines sittsam-seriösen Mannes zu erwecken. Das Gesicht des Frevlers zeigte erstaunliche Frische. Rosa Teint, glatte Haut, tadellos rasiert, mit übel duftendem Rasierwasser balsamiert, vielleicht auch mit einem Gel der billigsten Sorte.
Um sich keine Blöße zu geben, begrüßte Hartmann den Mann, der sich so frech wie hinterhältig an der Kunst vergriffen hatte, förmlich und bat ihn Platz zu nehmen. Der Übeltäter wählte zum Sitzen einen Eckplatz auf der großen, weißen Couch, die in Hartmanns Büro stand, und stellte einen mitgebrachten Diplomatenkoffer aus den frühen achtziger Jahren dicht an seine Füße.
Hoffentlich führt der Kerl keine Bombe in dem Koffer mit, überlegte Hartmann, um sich und mich in die Luft zu sprengen, falls das Gespräch nicht in die gewünschte Richtung läuft. Vorher jedoch würde er dem Kerl aber noch kräftig den Marsch blasen. Hartmann nahm gegenüber seinem Gast in einem Sessel Platz, der ebenfalls zur Garnitur gehörte.
„Nun, Herr Lammroth, Sie werden sich vermutlich wundern, warum Sie ausgerechnet der Vorstandsvorsitzende des Konzerns eingeladen hat“, eröffnete Hartmann das Gespräch.
„Nun ja“, antwortete der Angesprochene, „ich vermute wegen meines Manuskripts.“
„Sie sind ein schlaues Kerlchen“, höhnte Hartmann, “aber nicht schlau genug. Wer, zum Teufel, hat Sie denn glauben lassen, dass Sie mit dieser Masche durchkommen?“
Der Frevler blickte Hartmann fragend an. „Entschuldigung, aber von welcher Masche sprechen Sie?“
„Von welcher Masche ich spreche?“, erzürnte sich Hartmann. „Von dem geistigen Diebstahl, dessen Sie sich durchgehend schuldig gemacht haben. Ihr gesamtes Manuskript trotzt vor Plagiaten. Bald kein einziger Satz, den ich in Ihrem Teufelswerk fand, stammt aus Ihrer Feder. Sie haben gestohlen, wo Sie nur konnten – vornehmlich bei den Größten der Dichtkunst.“ Der Erzürnte rückte seine vor Aufregung ein Stück heruntergerutschte Brille zurecht und fuhr fort: „Selbst vor der Bibel haben Sie nicht haltgemacht!“
Lammroth unterbrach den Redeschwall seines Peinigers: „Falls Sie mein Manuskript durchgehend und vor allem aufmerksam gelesen haben, müsste Ihnen aufgefallen sein, dass ich auch jeweils einen Satz aus dem Koran, dem Tanach der Juden und dem Tripitaka, dem Kanon der Schriften des Buddhismus, sowie weiterer maßgeblicher Religionsschriften verwendet habe.“
„Verwendet?“, ereiferte sich der Literaturexperte, „Sie haben nicht verwendet, Sie haben entwendet! Kaltblütig gestohlen. Sich in der Weltliteratur bedient, wo Sie nur konnten. Um auf eine ganz faule, miese und fiese Art von den größten Koryphäen unter den Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu stehlen. Um zu nehmen, was nicht Ihnen gehört. Um auf eine ganz dreckige und billige Art zu profitieren. Pfui, sind Sie ein Schwein!“
Nachdem Hartmann fertig war, holte er erst einmal tief Luft. Sein Gegenüber schaute den Medienmogul mit Unverständnis an. Dann äußerte Lammroth sich, leise und wenig beeindruckt: „Erstens wird es auch nicht besser, wenn Sie andauernd betonen, dass ich gestohlen hätte. Und zweitens muss ich anscheinend meine Hoffnung begraben, in Ihnen jemand gefunden zu haben, der den eigentlichen, den tieferen Sinn dieses umfassenden Manuskripts, ich möchte sogar sagen: der den wahren Wert dieses monumentalen Universalwerkes erkennt und würdigt.“
Hartmann war baff. Was nahm sich dieser Kerl, dieser Verbrecher heraus? Und was glaubte dieser Betrüger, würde aus diesem, naja, immerhin - und mit viel Wohlwollen betrachtet - noch einigermaßen ordentlich zusammengestrickten Manuskript ein monumentales Universalwerk werden lassen? Er fragte nach: „Was in aller Welt lässt Sie annehmen, dass Ihr aus Betrug, Diebstahl und Raub zusammengestellter Text ein Universalwerk werden lässt?“
Lammroth beugte sich sichtlich enttäuscht vor. „Es geht im Eigentlichen weniger um die Geschichte, die das Buch erzählt. Wenngleich der Plot, mit viel Aufwand entwickelt, sich durchaus sehen lassen kann. Es geht vielmehr um die Rettung der Dichtkunst, was sag‘ ich, es geht im Prinzip um die Rettung der gesamten Literatur.“
„Erklären Sie sich weiter!“ Hartmann verstand nicht, warum er dies gerade gesagt hatte, anstatt den Kerl gleich wieder vor die Tür zu setzen.
Lammroth folgte der Aufforderung: „Sehr geehrter Herr Hartmann, vielleicht hören Sie mir erstmal einen kurzen Augenblick zu, bevor Sie mich weiter beleidigen! Wir alle wissen doch, dass die Menschheit das Lesen mehr und mehr vernachlässigt. Die visuellen Reize des Fernsehens, der Filmkunst, der Computer und Smartphones lassen das Lesen mehr und mehr in den Hintergrund rücken. Unsere Kinder leiden unter einem akuten Mangel an Phantasie, weil sie zu wenig oder gar nicht mehr Bücher oder wenigstens längere Texte lesen. Sie konsumieren vor irgendeinem Bildschirm, ohne sich selbst ausmalen zu müssen, was hinter einer niedergeschriebenen Landschaftsbeschreibung, einer dargestellten Person, hinter einer Geschichte - egal ob Tragödie oder Komödie, egal ob wahr oder erfunden - stecken könnte. Die Lese- und Rechtschreibschwäche nimmt nicht nur weltweit, sondern gerade auch bei uns dramatisch zu, Lesen ist kein Abenteuer mehr, keine Leidenschaft und keine angewandte Kulturtechnik, Lesen droht zur unliebsamen Qual zu verkommen, der man allenfalls noch beim flüchtigen Betrachten einer Kurznachricht nachkommt. Lieber zieht man sich heute einen Film oder ein PC-Spiel rein als sich in einem spannenden Buch zu verlieren. Erholung vom Alltag und Abwechslung sucht man heute nicht mehr beim Lesen, sondern beim Chillen vor dem Smartphone oder PC oder Fernseher.“
„Und Ihr Buch wird daran etwas ändern?“
Der höhnisch-provokanten Äußerung bewusst, fuhr der vermeintliche Dieb fort: „Nun Herr Hartmann, ich habe die letzten 23 Jahre damit verbracht,