Über des jungen Fischers Gesicht huschte ein kleines Grinsen: „Ömer wird sich bestimmt freuen. Er ist immer noch in der Start-up-Phase und kann jeden Auftrag gebrauchen.“
Die Nachwuchskraft zückte ihr Handy und diktierte Hartmann die Nummer des Freundes.
„Es versteht sich von selbst“, mahnte Hartmann, „dass dieses vertrauliche Gespräch mit Blick auf das psychische Problem des Autors unter uns bleibt. Das gilt auch konzernintern.“
Der junge Mann hatte eine Order von allerhöchster Stelle erhalten und wusste, dass sie absolut zu befolgen war. Umso mehr, als Fischer seinem besten Kumpel den Auftrag nicht versauen wollte.
Tags darauf weilte Hartmann beruflich in Genf, eine prima Gelegenheit, mit dem Telefon der Hotellobby ein Gespräch nach Berlin zu führen.
Kapitel 2
Hartmanns Lesestunde. Unter den Textproben befand sich das erste Kapitel eines Krimis. Das Manuskript war relativ emotionslos, fast dokumentarisch geschrieben, erinnerte in der Form eher an ein Dossier als an einen Roman. Es beschrieb aus der Sicht eines bekannten Film- und Theaterregisseurs die Suche nach seinem plötzlich verschwundenen Trauzeugen, einem bislang unauffälligen Durchschnittsbürger, der, was seinem Freund nicht bekannt war, als Bankmitarbeiter des Öfteren Wertpapiere aus Schließfächern entwendet hatte, deren Inhaber gerade verstorben waren. Bereits in der Einführung des Romans offenbarte der Verfasser, dass sich unter den gestohlenen Papieren auch hochbrisante aus dem 2. Weltkrieg befanden, die bekannten Menschen – Künstlern, Politikern – gehörten. Wie Hartmann dem beigefügten Exposé entnehmen konnte, verdichteten sich in der Folge Hinweise darauf, dass der Staatsschutz des Landes, in dem die Geschichte spielte, seine schmutzigen Hände beim Verschwinden des Schließfachdiebs im Spiel hatte und dass sich der Regisseur bei der weiteren Suche nach seinem Freund in Lebensgefahr begeben würde. In der letzten E-Mail erinnerte der Verschollene seinen Kumpel an die schönen Zeiten, welche beide gemeinsam anlässlich ihrer jährlichen Besuche der Berliner Filmfestspiele erleben durften. In derselben Mail bat der Dieb seinen Freund, ihn für immer aus dem Gedächtnis zu streichen. Konkret hieß es im Text: „Suche nicht nach mir, wenn Dir Dein Leben etwas wert ist! Vernichte alles, was uns einte, und vergiss meinen Namen für immer! Falls ich das alles überlebe, werde ich mich bei Dir melden!“
Die Leseprobe stammte aus der Feder eines unbekannten Autors namens Ömer Titec. Hartmann war konsterniert, man könnte sagen: sogar ein wenig geschockt. Angstschweiß hatte sich bereits während des Lesens auf seiner Haut gebildet. Ein Gefühl eigenartiger Bedrohung beschlich den erfahrenen Medienmacher, gemischt mit beinahe infantiler Neugier sowie einem Hauch prickelnder Abenteuerlust, wie sie zuweilen investigative Journalisten anfällt. Der Verstörte nahm die Brille ab, schloss die Augen und versuchte tief und langsam zu atmen. Während seiner Atemübungen wartete er genau die Zeit bis zum regulären Ende der Lesestunde ab, dann begab er sich mit den Leseproben unter dem Arm in das Büro seiner Chefsekretärin.
„Darf ich etwas für Sie tun?“, begrüßte Frau von Goeben ihren Chef, der gewöhnlich nicht das Sekretariat aufsuchte.
„Ja“, antwortete Hartmann, „haben Sie einen Aktenvernichter?“
Frau von Goeben zeigte auf das Gerät in der Nähe des Kopierers. „Dort drüben.“
Mit den Jahren hatte sie ihren Chef einzuschätzen gelernt und bemerkt, dass ihn etwas zu bedrücken schien. „Geht es Ihnen gut“, fragte sie, „Ist alles in Ordnung?“
„Ja, ja, es sind nur diese schrecklich schlecht geschriebenen Manuskripte, sie versauen einem manchmal richtig den Tag. Diese hier sind so grauenvoll, dass sie nichts anderes verdient haben als umgehend entsorgt zu werden.“
Hartmanns Chefsekretärin stand auf, um ihrem Boss die Manuskripte abzunehmen: „Lassen Sie, das kann ich doch machen!“
„Nein, nein“, wehrte Hartmann ab und lief zum Papierwolf, „ich möchte mich mehr bewegen und körperlich ein bisschen aktiver werden zwischen dem unentwegten Sitzen.“
Er schaltete das Gerät ein und begründete seine Aktivität weiter, während er Blatt für Blatt in den Reißwolf steckte: „Es gibt da so eine 45-10-5-Minuten-Regel. Sobald Sie 45 Minuten am Schreibtisch sitzend gearbeitet haben, sollten Sie 10 Minuten umhergehen und sich weitere 5 Minuten auf andere Art und Weise bewegen.“ Hartmann zwinkerte seiner Sekretärin zu: „Sollten Sie auch mal versuchen!“
Frau von Goeben nickte - ein wenig aus Gewohnheit, ein wenig, weil sie die Idee nicht schlecht fand. Noch eines musste sie bezüglich der Aktenvernichtung nachfragen: „Ich gehe davon aus, dass Sie keine Nachricht mit einer Begründung für die Ablehnung der Texte an die Autoren wünschen?“
Die korrekte Chefsekretärin wollte den Sachverhalt klären, da Sie im Normalfall die Autoren abgelehnter Manuskripte anhand vorgefertigter Textbausteine über die Ablehnungsgründe informierte, sich für das Interesse an einer Veröffentlichung bedankte und mit einer mutmachenden Floskel sowie freundlichen Grüßen verabschiedete.
Hartmann quittierte die Frage mit einem Blick, der seiner Sekretärin nichts anderes als Unmut signalisierte. Sie verstand.
Die Vernichtung dauerte, sodass Hartmann die Zeit mit einer für ihn nicht ganz unwichtigen Frage überbrückte: „Sagen Sie, wie sieht mein diesjähriges Berlinale-Programm aus?“
Hartmanns persönliche Terminplanung schloss den Besuch der Berliner Filmfestspiele seit Jahrzehnten verbindlich ein; zum einen zählte seine Anwesenheit als Chef Europas größter Mediengesellschaft zu seinen originären Repräsentationspflichten, zum anderen liebte er gute Filme
und letztlich traf er nirgendwo anders so viele Geschäftspartner, Freunde und Bekannte aus aller Welt.
Elisabeth von Goeben öffnete am PC die Kalenderseite ihres Chefs und las vor: „Sie reisen am kommenden Samstag nach Berlin, besuchen sechs Filmvorführungen und sind zu acht Galas respektive After-Show-Partys eingeladen. Zwischendurch haben Sie vier Interviewtermine und fünf Treffen mit Politikern.“
Wieder schaute Hartmann seine Chefsekretärin verärgert an: „Können Sie anstatt der Wortungeheuer „respektive“ und „After-Show-Party“ nicht einfach die Formulierungen „beziehungsweise“ und „Feier“ wählen?“
Frau von Goeben dachte kurz nach und erwiderte dann: „Bei der Formulierung „beziehungsweise“ gehe ich gern mit, aber das Wort „Feier“ beschreibt nur in ungenügendem Maß das gemeinte Ereignis und „Nachfeier“ klingt irgendwie ebenso missverständlich wie „Anschlussfeier“.
Obgleich Hartmann nicht zum Lachen zumute war, konnte er sich eines kurzen, zustimmenden Schmunzelns nicht entziehen. Der Grund für seine gedrückte Stimmung lag auf der Hand, immer noch bestimmte die eben vernichtete Textprobe Hartmanns Befinden. Zu beängstigend las sich der Inhalt des Papiers, zu offensichtlich die Warnung, ab sofort jeglichen Kontakt zu dem in Berlin beauftragten Detektiv einzustellen. Zu deutlich kam das Signal an, jegliche Suchaktivitäten in Zusammenhang mit Lammroth ab sofort einzustellen, sofern einem das eigene Leben lieb war. Warum überhaupt, fasste Hartmann die Botschaft gedanklich zusammen, wollte sich Ömer Titec dann noch mit ihm auf der Berlinale treffen? Und wie sollte dieses Treffen über die Bühne gehen? Und woher, verdammt nochmal, fragte sich der zwischenzeitlich in sein Büro Zurückgekehrte, weiß dieser Detektiv, dass ich jedes Jahr die Filmfestspiele in Berlin besuche? Und wie hat es dieser Bursche angestellt, den Kontakt zu mir über eine unter hunderten zufällig ausgewählten Leseproben herzustellen? Fragen, die sich dermaßen im Kopf des Konzernchefs festsetzten, dass er nach dem lange seiner Frau versprochenen Theaterbesuch zum anschließenden Nachgespräch nichts Wesentliches beitragen konnte. Während sie, kaum zuhause, müde ins Bett gefallen war und sofort Schlaf gefunden hatte, zog er sich den Morgenmantel über, um noch einige Meter über den Wohnzimmerteppich zu schreiten. Wieder änderte Hartmann im Laufe der feinverwebten Meditation