Transkription. Christoph Papke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christoph Papke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783750237117
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befand sich noch im hoteleigenen Bademantel, als es an der Tür klopfte. Der junge Hotelangestellte reichte ihm ein Morgenblatt zu.

      „Danke, aber ich habe meine Zeitungen bereits erhalten“, wehrte Hartmann das Angebot ab und wollte die Tür wieder schließen. Jeden Tag, auch in Berlin, erhielt er automatisch zum Frühstück ein Exemplar der vier auflagenstärksten Tageszeitungen seines Verlagshauses. So hatte er auch diesmal gleich nach dem Aufstehen die Lektüre an der Tür seiner Suite vorgefunden und zum Tisch gebracht. „Extraservice des Hauses!“, lächelte der Jüngling und drückte Hartmann die Zeitung in die Hand. Dann drehte sich der Überbringer um und lief gemessenen Schrittes in Richtung Fahrstuhl, ohne ein Trinkgeld abzuwarten. Hartmann blickte auf die Titelseite, ein Konkurrenzprodukt. Die Erzeugnisse seiner Mitbewerber pflegte Hartmann gewöhnlich nur sonntags zu studieren. Da hatte er Zeit und Muße zu vergleichen. Heute war aber nicht Sonntag. Wenn er in Gottes Namen die Zeitung schon hatte, dachte sich der Beschenkte, konnte er auch rasch einen Blick hineinwerfen, schließlich war er ein neugieriger Mensch. Hartmann blätterte kurz durch und stutzte, die Zeitung war vom vergangenen Tag. Beinahe schon auf dem Weg in den Papierkorb, fiel ihm auf der vorletzten Seite ein Artikel mit der Überschrift Das neue Schafgrauh auf. War es zunächst der Schreibfehler, der seine professionelle Aufmerksamkeit erregte, signalisierten seine Synapsen ihm eine Millisekunde später, dass es sich bei dem Artikel um eine Botschaft handelte, geschickt eingefügt an der Stelle, wo vorher ein anderer Text stand, in Schriftart und Schriftgröße sowie im Umfang völlig identisch. Inhaltlich ging es um die nach der Wende durchgeführte Umschulung eines ehemaligen Mitarbeiters des Ministeriums für Staatssicherheit zum Schafhirten, eine Saulus-Paulus-Geschichte. Der Mann war schon zu Zeiten seines Informatikstudiums an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena von der Stasi angeworben worden und machte anschließend beim MfS Karriere. In den Abteilungen S und 32 des operativen technischen Sektors übertrug er zunächst im Kollektiv mit anderen Kollegen Sprachaufnahmen aus Interviews, Verhören und heimlich abgehörten Telefongesprächen auf Karteikarten, um diese anschließend auf der Basis damals noch einfachster elektronischer Datenverarbeitung inhaltlich auszuwerten. Mit den zunehmenden Einflussmöglichkeiten der Informations- und Telekommunikationstechnik auf die Analyse von Dokumenten und verbaler Kommunikation brachte es der Mann aufgrund seiner ausgeprägten Führungsstärke sowie weit überdurchschnittlicher Fähigkeiten auf den Gebieten Fachinformatik, IT-Systemelektronik und IT-Systemtechnik bis zum stellvertretenden Leiter der Abteilung Wissenschaft und Technik der Hauptverwaltung A des Ministerium für Staatssicherheit. Insbesondere zeichnete sich der Spezialist für Computerlinguistik durch das Klonen neuester, streng geheimer und selbstverständlich illegal beschaffter Software des Westens aus. Frustriert durch den Fall der Mauer und arbeitslos wegen des Wegfalls seines Arbeitsplatzes, hatte sich der im Artikel beschriebene Mann - kein Zweifel, es handelte sich um Lammroth – nach dem Zusammenbruch der DDR zum Schafhirt ausbilden lassen, um fortan an ein anonymes Leben im schönen Land Utopia zu leben, was nichts anders heißen konnte, als das der Beschriebene unauffindbar war. Der Text endete mit den Worten: Danke für Ihren Auftrag! Reißen Sie den Artikeln aus der Zeitung und zerkleinern Sie ihn zu möglichst kleinen Schnipseln, die Sie in vier etwa gleiche Häufchen in Ihren Hosen- und Jackentaschen verstauen! Wenn Sie das Hotel verlassen, kaufen Sie eine Packung Kaugummis! Sofern Sie auf der Straße einen öffentlichen Papierkorb sehen, wickeln Sie einen Kaugummi aus, stecken ihn in den Mund und werfen das Kaugummipapier zusammen mit einem der Häufchen in den Papierkorb! Verfahren Sie weiter, bis das letzte Häuflein entsorgt ist! Ich melde mich bei Ihnen.

      Habe ich ja Glück, dass ich kein Gebissträger bin, fiel Hartmann bei der Anweisung ein, Kaugummis zu kauen, na gut, im anderen Fall würde man vermutlich Bonbonpapier nutzen, natürlich von Lutschbonbons und nicht von Kaubonbons. Kaum diese überflüssige Überlegung angestellt, fokussierte sich Hartmanns Gehirn wieder auf den Artikel. Die aufgeführten Fakten deckten sich mit den Informationen, die er seinerzeit in der Redaktionssitzung seines Fernsehmagazins erhalten hatte. An Lammroths Geschichte könnte also wirklich etwas dran sein. Oder wollte ihn dieser junge Privatermittler abziehen? Wieder die bohrenden Fragen des Misstrauens gegenüber anderen Menschen. Wieder suchten die nervenden Fragen den notorischen Zweifler heim: Titec könnte geschickt eine Legende zu Lammroth erfunden und dazu diesen Artikel verfasst haben, unterfüttert mit hinlänglich bekanntem Faktenwissen aus dem MfS, um das eigene Start-up mit einem umfangreichen Auftrag, einem geheimnisumwitterten Großauftrag, über zu Wasser zu halten. Hartmann wusste, dass er sich persönlich zu Lammroths Wohnung aufmachen musste, um zu schauen, was wirklich los war. Bevor er losging, riss er rasch noch den Artikel aus der Zeitung und zerfetze ihn, um jede seiner Hosen- und Manteltaschen mit einer kleinen Fuhre Schnipsel zu befüllen. Dann warf er sämtliche Zeitungen gebündelt in den Papierkorb und suchte umgehend auf der Straße einen Laden auf, der Kaugummis führte.

      Entsetzt war Hartmann nicht, als er vor dem Haus stand. Verwahrloste Gebäude, die zwei Jahrhundertwenden und zwei Weltkriege überstanden hatten, gehörten zum Stadtbild eines alt-berliner Bezirks wie Lichtenberg. Die graue, morsche Fassade hatte schon bessere Tage gesehen. An vielen Stellen wies sie kleinere und größere Löcher auf, weil die Farbe vermutlich bereits vor vielen Jahrzehnten abzuplatzen begonnen hatte. Würde jemand mit den Fingernägeln oder gar mit einem Spachtel an den weiß-kahlen Stellen ansetzen, könnte weiterer Putz, vielleicht sogar großflächig von der Wand bröckeln, vermischt mit rieselndem, durch Erosion entstandenem Sand. Der Hausnummer waren zwei Aufgänge zugewiesen. Ein kleinerer mit Namensschildern für das Vorderhaus, daneben der breitere mit den Namen der Bewohner des linken und rechten Seitenflügels. Hartmann entdeckte Lammroths Namen ganz unten auf dem Klingelschild des linken Seitenflügels. Der Gesuchte wohnte also im Erdgeschoss. Hartmann klingelte. Einmal. Zweimal. Dreimal. Nichts rührte sich. Nun ja, dachte sich Hartmann, wenigstens stimmt die auf dem Manuskript angegebene Adresse. Oder sollte sich Lammroth jemanden gleichen Namens gesucht und dessen Anschrift zur Tarnung verwendet haben? Aber warum? Und gab es überhaupt so viele Berliner mit dem Namen Lammroth? Hätte ich recherchieren können, war der Medienmacher ein wenig unzufrieden mit sich selbst. Da sich auch auf weiteres Klingeln niemand meldete, die Haustür also weiterhin für Unbefugte verschlossen blieb, beschloss Hartmann bei Lammroths Nachbarn zu klingeln. Er hatte Auswahl, zehn Parteien bewohnten allein den linken Seitenflügel. Wie beim Lotto wählte er nach dem Zufallsprinzip aus. Das dritte Läuten erhielt eine Reaktion: „Ja, bitte?!“

      „Ich bin ein alter Schulkamerad Ihres Mitmieters Lammroth“, log Hartmann, „und auf der Durchreise. Anscheinend ist Herr Lammroth nicht daheim. Würden Sie mich bitte kurz hereinlassen, damit ich ihm eine Nachricht in den Briefkasten werfen kann?“

      Der Summer signalisierte ohne Kommentar das Zutrittsrecht zum Seitenflügel. Ein dunkler, ungemütlicher Durchgang wies Hartmann den Blick in einen großen Hof, der sich im hinteren Teil zu einer parkähnlichen Oase erstreckte, nicht groß, aber liebevoll hergerichtet unter ein paar Bäumen mit Sträuchern, zwei, drei Beeten, einem kleinen Spielplatz und einer rustikalen, aus ausrangierten Stühlen zusammengewürfelten Sitzecke und einem uralten Grill. Die das kleine Refugium säumenden Seitenflügel wiesen das gleiche hässliche Grau auf wie das Mauerwerk der Straßenfront. Im dunklen, muffig riechenden Erdgeschoss des linken Flügels fand Hartmann ohne Probleme Namensschild und Klingel des Gesuchten. Der Medienmacher schellte, erst kurz, dann lang. Nichts. Er legte vorsichtig das Ohr an die Wohnungstür. Nichts. Kein Geräusch. Vielleicht könnte Klopfen helfen, dachte er sich, und donnerte gegen die Tür. Nein, auch da tat sich nichts. Langes Warten war für Hartmann keine Option, schließlich hatte er bereits eine Filmvorführung geschwänzt und in einer guten Stunde stand ein lang verabredetes Interview auf der Agenda, das er keinesfalls versäumen durfte. Blieb noch ein kurzer Blick in Lammroths Hausbriefkasten, der sich vorn im Durchgang befand. Der Kasten war leer. Tatsächlich, fiel dem Suchenden die gerade verwendete Notlüge ein, hätte man in Lammroths Briefkasten wenigstens eine Nachricht hinterlassen können, damit dieser sich des weiteren Interesses an seiner Person und seiner Arbeit sicher sein könnte. Auf der anderen Seite hatte Titec ihn mehrmals eindringlich vor Kontakten zu Lammroth gewarnt und der sensationsgeile Medienmacher war mit dem Besuch schon ziemlich weit gegangen. Da könnte eine persönliche Nachricht, die in die verkehrten Hände fiele, schlafende Hunde wecken, die mehr als nur bissen. Zeit zum Warten blieb nicht, die Befragung Lammroths Nachbarn schien zu gefährlich, also beschloss Hartmann, zurück zum Hotel zu fahren. Glücklicherweise entstieg gerade in dem