„Gott, siehst du aus, hast du überhaupt geschlafen?“, fragte Hartmanns Frau nach dem Weckerläuten. Hatte er oder hatte er nicht? Vermutlich ja, überlegte er, vielleicht auch nicht. Der Badezimmerspiegel präsentierte dem Manager ein fahles, in kürzester Zeit um Jahre gealtertes Gesicht. Im Dienst angekommen, ließ er bei dem jungen Fischer anfragen, ob nach dem Mittagsessen ein gemeinsamer Verdauungsspaziergang infrage käme. Ja, meldete dieser zurück, sehr gern sogar. Als die beiden am vereinbarten Treffpunkt erschienen, lächelte ihn der junge Trainee an. „Meine Trainee-Kollegen und andere aus Ihrem Mitarbeiterstab fragen sich schon, ob Sie mich adoptieren wollen oder ob wir eine Affaire hätten.“ Hartmann wusste, dass ein sensibles Organ wie die Zentrale eines Großkonzerns jede Bewegung ihres Führungsstabes, erst recht jede des obersten Stabschefs registrierte und zu deuten versuchte. Das brauchte ihm ein junger Dachs wie dieser Anselm Fischer nicht erst frech unter die Nase zu reiben. Hartmann nahm diesbezüglich die Gerüchteküche gern in Kauf, schließlich wollte er dem jungen Mitarbeiter unauffällig über den ihn leider nach wie vor beschäftigenden Vorgang auf den Zahn fühlen. „Junger Mann“, antwortete er, „richten Sie Ihren Kollegen und allen anderen aus, dass Fußballanhänger im Allgemeinen stellen- und altersübergreifend fachsimpeln!“ Dann verwickelte er Fischer in fußballspezifische und Fragen zu den Begegnungen des kommenden Bundesligaspieltages. Wie durch Zufall führte das Gespräch des Managers mit dem jungen Spund in das aktuelle Berliner Fußballgeschehen und zu Ömer Titec. „Ach“, fiel Hartmann laut ein, „ich wollte mich bei Ihnen ja noch für die Kontaktvermittlung zu Ömer Titec bedanken.“
„Keine Ursache“, antwortete Anselm Fischer, „schließlich freut sich Ömer über jeden Auftrag. Hat denn alles geklappt?“
„Ja, ja. Hat Ihr Kumpel denn nichts erzählt?“
„Nee, Schnaps is Schnaps und Bier is Bier.“
„Naja, aber Freunde untereinander? Sie berichten bestimmt doch auch über das, was Sie hier in der Firmenzentrale erleben.“
Fischer blieb stehen. „…und haben im Vertrag keine Schweigepflichtserklärung unterschrieben! Kommen Sie, Sie wollen mich locken, Herr Hartmann!“
Hartmann hielt ebenfalls an.
Fischer lächelte: „Außerdem haben Sie mich um Vertraulichkeit gebeten. Ist das hier so etwas wie eine Prüfung?“
„Na gut“, sagte Hartmann, „Sie haben mich durchschaut. Aber wie geht’s Ömer, hatten Sie in letzter Zeit Kontakt zu ihm oder überhaupt nach Berlin?“
„Nö“, schlenderte der Trainee weiter, „nächstes Wochenende bin ich erst wieder Berlin, soviel verdient ein Trainee nicht, dass er sich jede Woche eine Heimfahrt leisten kann.“
Hartmann schlenderte mit. „Glauben Sie jetzt aber nur nicht, dass ich Ihnen aufgrund Ihrer Wehklagen die Vergütung erhöhen lasse.“
Fischer lachte: „Mit Verlaub, dann wären Sie auch ein Scheißchef! Mindestens ein miserabler Vorstandsvorsitzender.“
Hartmann hatte genug gehört, der Junge wusste nichts von der mit dem Fall in Rede stehenden Problematik. Während Hartmann die Sprache unauffällig wieder zurück auf den Fußball führte, konnte er den Trainee von der Liste möglicher Mitwisser streichen.
Der Konzernchef war entsetzt. Sein Zimmer verfügte zwar über einen Teppich, allerdings über einen ohne Randmuster. Hartmann hatte wie üblich Unterkunft in seinem Stammhotel erhalten, jedoch eine andere als die gewohnte. Einfach zu spät reserviert. Wunschgemäß und nur seinetwegen hatte die Hoteldirektion extra einen Teppich organisiert und auslegen lassen, aber einen musterlosen grauen. Freilich passte das gute Stück zum Interieur, adelte die ohnehin hochwertige Unterkunft um Einiges, jedoch fehlte die für Hartmann so wichtige Orientierungshilfe. Sobald er allein im Zimmer war, zog er seine Schuhe aus und startete erste Gehversuche nah am Rand des Knüpfwerkes, das wahrscheinlich gar keines war, sondern eine maschinell hergestellte Webware. Es klappte, Hartmann konnte geradeaus laufen und um die Ecke, ohne Gleichgewichtsstörungen, ohne allzu schiefe Bahnen, die das Denken störten. Während er so dahinlief, fiel ihm ein, dass sich der Detektiv bislang nicht hatte blicken lassen. Bevor Hartmann nach Berlin gefahren war, hatte er alle möglichen Varianten der Kontaktaufnahme durchgespielt. Dieser Herr Titec hätte ihn als Fahrer verkleidet beim Transfer vom Flughafen zum Hotel ansprechen können oder als Page, Hotelportier oder Servicemitarbeiter. Ein zufälliger Rempler auf der Straße hätte sich zur Kontaktaufnahme ebenso angeboten wie eine harmlose Frage nach dem Weg. Vielleicht tarnte Titec sich als Journalist, der auf ein Interview aus war, als Zimmernachbar im Hotel oder als Gast an der Bar. Hartmann beschloss, bevor der erste Filmbesuch am Nachmittag anstand, die Hotellobby aufzusuchen, dort ein wenig Zeitung zu lesen, gegebenenfalls einen Kaffee oder besser einen Tee an der Hotelbar einzunehmen. Außer dem freundlichen Kopfnicken einiger Menschen, die ihn als VIP erkannten, und zwei Händeschüttler, die er irgendwoher kannte, nichts. Kein Titec. Ein gut ausgebildeter Detektiv, war Hartmann klar, würde wissen, wie und wann er seinen Klienten unauffällig anzusprechen hatte. Zugegebenermaßen bereitete es dem Konzernchef sogar ein kleinwenig Freude, Teil dieses Detektivspiels zu sein. Vorsichtshalber hatte er sich schon mal 2.000 Euro in Hunderterscheinen eingesteckt, Geld, um den Freund seines Trainees, für die geleistete Arbeit, wie gewünscht, in bar zu entlohnen. Erst wenn dies geschehen, wusste Hartmann, würden die Berliner Filmfestspiele wieder in den Vordergrund rücken können. Hoffentlich fand also das Treffen so bald wie möglich statt. Der erste Kinobesuch stand an, die Premiere eines Streifens, der in 3-D aufwendig produziert die dramatische Geschichte eines gutsituierten Familienvaters mit einer harmlosen dissoziativen Störung erzählte, die sich