Es war in Berlin. Gabriele Beyerlein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Beyerlein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738018554
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zu Clara und schaute voller Rührung auf die beiden Kinder, »der dunkle Haarschopf und die blonden Locken.«

      »Und wie trügerisch«, gab Clara mit plötzlicher Bitterkeit zurück und dachte an die Striemen auf Lisas Händen. Sie musste besser darauf aufpassen, dass die Mutter der Schwester die nötige Zeit für die Schule ließ. Wenn die Mutter nur nicht so beschränkt wäre!

      Und wenn der Vater nicht jeden Abend beim Unterirdischen Paule einkehren und dabei fast seinen halben Lohn versaufen würde! Dann müsste die Mutter nicht so viel Heimarbeit annehmen, dass sie auf Lisas Mitarbeit angewiesen war …

      »Also, ich muss dann los«, erklärte Jenny. »Du weißt ja Bescheid. Und lasst es euch schmecken! Stine hab ich grad vorhin gestillt und trockengelegt, wenn du Glück hast, gibt sie Ruhe, bis ich wiederkomme. Und verwöhnt mir den Moritz nicht zu sehr!« Sie gab dem Jungen einen Kuss, nahm ihr Schultertuch und das Bündel mit ihren Büchern und weg war sie.

      Das Abendessen war ein Festmahl, wie sie es daheim nicht einmal vom Sonntag kannten. Clara teilte die Würste und den Speck und achtete darauf, dass die Schwester die größeren Teile bekam. Wie sich Lisas Wangen beim Essen vor Begeisterung röteten!

      Während Lisa für den Religionsunterricht sechs Strophen eines Gesangbuchliedes auswendig lernte, brachte Clara in der Schlafkammer Moritz zu Bett und erzählte ihm eine Geschichte von Rübezahl, die der Dorfschullehrer daheim in Schlesien oft vorgelesen hatte. Dann schaute sie noch einmal in die Wiege zu der friedlich schlummernden Stine. Auch Moritz waren die Augen schon zugefallen. Einen Augenblick ließ Clara die Stille dieses Raumes tief in sich eindringen.

      Kinderbett, Wiege, die beiden in die Ecke geschobenen Ehebetten, der Kleiderschrank, die Kommode unter dem Fenster – jeder Winkel war ausgefüllt. Die rötlich-braunen Möbel glänzend poliert, das Bettzeug auf Jennys und Heinrichs Bett sorgfältig aufgeschüttelt und glatt gestrichen, eine Vase mit Wachsblumen auf einem Häkeldeckchen auf der Kommode. Wie schön das alles war. Und ein Bett für jeden für sich allein! Was für ein Glück … Noch einen sehnsüchtigen Blick ließ sie durch die Kammer schweifen, dann drehte sie die Lampe aus und ging in die große Wohnküche zurück.

      Sie setzte sich auf das Sofa und stopfte sich ein Kissen hinter den Rücken. So ließ es sich doch viel gemütlicher nähen als daheim auf dem Stuhl! Lisa saß am Tisch und schrieb. Nicht einmal das Stampfen der Fabrik im Nachbarhof, das auch in der Nacht nicht abbrach, konnte die Ruhe stören, die Clara empfand. Als die Schwester ihr Heft zuklappte und ganz selbstverständlich nach der Nähnadel griff, schüttelte Clara den Kopf. »Nein, Lisa! Du gehst jetzt schlafen. Sag der Mutter, ich mache die Schals fertig. Du musst dich endlich einmal ausschlafen, du bist noch so jung.«

      Lisa umarmte sie stürmisch, drückte den Kopf an Claras Wange. »Du bist so lieb!«, flüsterte sie dicht an Claras Ohr.

      »Ach was!«, erwiderte diese und schob sie von sich. »Geh!« Aber die Haare der Schwester meinte sie noch lange an ihrer Wange zu fühlen, als Lisa längst verschwunden war.

      Der weitere Abend verlief in gleichförmiger Ruhe. Keines der beiden Kinder verlangte nach ihr. Einen Schal nach dem anderen nahm Clara sich vor und vernähte die Schuss- und Fadenbrüche. Nur einmal machte sie eine kurze Pause, trank ein Glas Wasser und ging mit der Lampe in der Hand in die gute Stube – bloß um diesen Reichtum zu genießen. Die Stube war nicht geheizt, denn nur sonntags und zu festlichen Gelegenheiten wurde sie genutzt, Schonbezüge lagen auf dem Sofa mit der hohen Rückenlehne, auf den Sesseln und den Polsterstühlen. Dennoch war dieser Raum mit seinen gehäkelten Stores und seinen dunkelroten Gardinen der Gipfel der Schönheit. Sie betrachtete Jennys gutes Porzellan hinter den Glastüren des Büfetts, fuhr mit den Fingern die gedrechselten Säulen und geschnitzten Ornamente dieses eindrucksvollen Möbelstücks nach, zog die kleine Spieluhr auf und blieb vor den gerahmten Fotos an der Wand stehen: Jenny und Heinrich als Brautpaar unter einer Samtportiere, daneben das Bildnis von Karl Marx und – mit einer vertrockneten Rosengirlande umkränzt – von noch einem eindrucksvollen Herrn mit mächtigem angegrauten Bart, an dessen Namen sie sich nicht genau erinnerte, obwohl ihr Jenny von dem erzählt hatte. Hieß er nicht Engel? Mit einem Seufzer riss sie sich schließlich von der Pracht dieses Raumes wieder los und kehrte in die Küche zu ihrer Näherei zurück.

      Als Jenny gegen zehn Uhr heimkam, wartete immer noch ein Dutzend Schals darauf, vernäht zu werden. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, setzte die Freundin sich zu ihr an den Tisch und beteiligte sich an der Arbeit.

      »Sag mal«, begann Jenny mit spürbarem Zögern, »bekommt denn nun diese Anna Brettschneider ihre Nähmaschine?«

      »Das hoffe ich schon«, erwiderte Clara und gab einen ausführlichen Bericht darüber, wie sie die Fremde zu Annas Kellerwohnung gebracht hatte.

      Jenny seufzte erleichtert auf. »Und ich hatte schon befürchtet, ich hätte die wohltätige Dame so vergrault, dass sie wieder umgekehrt wäre, und meinetwegen ginge nun die arme Frau leer aus«, gestand sie. »Manchmal geht wohl der Gaul mit mir durch.«

      Clara lachte. »Das kann man wohl sagen!«

      »Aber recht hatte ich doch!«, beharrte Jenny und stimmte in das Lachen ein. Nebenan weinte Stine. Kaum war Jenny in der Kammer verschwunden, um die Kleine zu stillen, da klopfte es leise und verstohlen an der Küchentür.

      Verwundert öffnete Clara und sah sich einer ihr unbekannten Frau in einem abgewetzten Wintermantel gegenüber, die sich ängstlich umblickte und hastig in die Küche drängte. »Ist Jenny nicht da?«, fragte sie gehetzt.

      »Doch, schon. Sie stillt gerade. Setzen Sie sich doch!«

      Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich muss mit Jenny reden! Es ist dringend!«

      Eine solche Angst sprach aus dem fremden Gesicht, dass Clara in die Kammer ging und Jenny Bescheid sagte. Mit dem Säugling an der Brust kam diese in die Küche. »Gerda! Was ist passiert?«

      Nun endlich ließ die Frau sich auf den Stuhl fallen. »Eine Razzia«, erwiderte sie erregt. »Die Polizei führt eine Razzia durch. Und zu mir kommt sie bestimmt auch und ich hab doch die Bücher und …« Vor Aufregung konnte Gerda nicht weitersprechen.

      »Bei wem waren sie schon?«

      »Bei Ottilie Baader und bei Emma Ihrer und ich weiß nicht, bei wem noch«, antwortete Gerda nach Atem ringend. »Es geht gegen das Frauenagitationskomitee. Dabei ist es doch von Rechts wegen erlaubt, eine Frauenagitationskommission zur Vorbereitung auf eine öffentliche Versammlung zu gründen, und wir haben immer aufgepasst, der Polizei keinen Anhalt für die Behauptung zu geben, dass wir ein politischer Verein wären, damit sie uns nicht verbieten können. Aber anscheinend haben die Volksversammlungen, in denen Bebel, Liebknecht, Ihrer und Baader für die Rechte der Frauen gesprochen haben, viel Staub aufgewirbelt und nun wittert die Obrigkeit wieder einmal den Umsturz. Ottilies Vater hat unbemerkt einem Nachbarjungen einen Zettel für mich zustecken können, der Junge hat ihn zu mir gebracht. Ich habe doch die Bücher mit den Mitgliedern und den eingezahlten Beiträgen, wenn das der Polizei in die Hände fällt, nicht auszudenken!«

      Jenny nickte. »Das muss verschwinden«, sagte sie nüchtern. »Hast du die Bücher dabei?«

      Gerda klopfte sich an die Brust. Dann knöpfte sie ihren schäbigen Mantel auf und holte zwei dicke Hefte hervor, legte sie auf den Küchentisch.

      Jenny sah die Hefte mit gerunzelter Stirn an. »Bei mir sind sie auch nicht sicher«, sagte sie nachdenklich. »Es ist bekannt, dass ich in die Arbeiterinnenschule gehe und meine Beziehungen zu dem Frauenagitationskomitee habe und bei keiner Volksversammlung fehle, wo es um Frauenfragen geht. Bei einigen Versammlungen habe ich sogar was gesagt – und die Polizei hat natürlich alles mitgeschrieben, bestimmt auch meinen Namen, darauf kann man Gift nehmen. Und Heinrich ist in der Partei und in der Gewerkschaft und Gott sei Dank auch keiner, der den Mund hält.« Nachdenklich strich sie über das Köpfchen ihrer kleinen Tochter, die von aller Aufregung unbeeindruckt an Jennys Brust nuckelte. Dann schaute Jenny Clara an.

      Clara wurde heiß. Sie begriff, was die Freundin wollte, ohne dass diese es aussprechen musste. Und sie begriff, dass sie, würde sie zustimmen, in etwas hineingezogen würde, was