Und wenn es herauskam, dann zog sie auch noch ihre Familie hinein, und wenn sie verurteilt wurden, dann mussten sie alle ins Gefängnis, denn das Geld, eine Strafe zu zahlen, hätten sie nicht.
Aber Jenny sah sie an. Und nun auch Gerda.
Clara schluckte. Ihr Hals war trocken und rau.
»Bei euch würde keiner die Bücher vermuten«, sagte Jenny leise. »Dein Vater ist nicht in der Partei. Heinrich sagt, dein Vater redet nicht einmal am Stammtisch über Politik – und wenn, dann für das Zentrum. Und deine Mutter und du – ihr seid völlig unbeschriebene Blätter. Bei euch wäre es sicher.«
»Bitte!«, flehte Gerda. »Bitte!«
Da nickte Clara und schob die Hefte zwischen die Kaschmirschals, schlug das Tuch um den Packen, stand auf und nahm ihn sich unter den Arm. »Dann bring ich sie jetzt lieber weg«, sagte sie mühsam. Und wusste, sie würde es bereuen.
2
Und was so eine braucht, das ist gottverdammt noch mal keine Wohltätigkeit, sondern Gerechtigkeit …
Dieser Satz ging in Margarethes Kopf herum wie ein Mühlrad, verwob sich mit dem Violinsolo, das der polnische Virtuose mit dem völlig unaussprechlichen Namen zum Besten gab. Ge-rech-tig-keit, skandierten die harten Striche in wütendem Fortissimo, mit denen das Presto endete, Ge-rech-tig-keit!
Höflicher Applaus, der weniger dem bravourösen Spiel des Künstlers galt als der Gastgeberin Baronin von Zug, Margarethes Mutter, in deren Salon – genauer gesagt im großen Musiksaal der Villa – sich wie jeden Donnerstagabend Damen und Herren von Geburts- oder Geldadel nach einem fünfgängigen Menü vielversprechende junge Künstler vorführen ließen: schüchterne oder schwärmerische Dichter, die aus ihren Werken lasen, linkische Maler, die stets eine Mappe ihrer Arbeiten unter dem Arm trugen, Bildhauer mit olympischem Blick und einem Album mit Fotografien ihrer Werke, oder Musiker aller Provenienzen. Heute also dieser junge Pole mit seiner wenig eingängigen Musik.
Ermutigt durch den Beifall begann er zu allem Überfluss noch ein weiteres Stück. Es erschien Margarethe wie eine einzige Anklage. So wie das Gesicht dieser kleinen einfachen Frau, die ihr im Hof der Mietskaserne ihren Zorn entgegengeschleudert hatte.
Margarethe versuchte das Bild zu verscheuchen. Sofort war da ein anderes, weit schlimmeres: dieses unsägliche Kellerloch, die bleichen Kinder und die verzweifelte alte Frau – die gar nicht so alt sein konnte, hatte sie doch noch ein Baby. Diese unterwürfige Art, fast hündisch. Kaum hatte sie verhindern können, dass Anna Brettschneider ihr die Hände küsste, und das nur, weil sie in ihrer Rat- und Hilflosigkeit den Inhalt ihres Geldbeutels zwischen die Tütenstapel auf den verklebten Tisch gekippt hatte, nicht mehr als sieben, acht Mark, wenn es hoch kam zehn. Sie hatte nicht mehr Geld eingesteckt, schließlich hatte sie ja nicht geahnt, wie dringend ihr Wunsch sein würde, Geld zu geben. Oder sollte sie ehrlicher sagen: sich loszukaufen?
Dieser Schmutz und dieser unglaubliche, Übelkeit erregende Gestank! Keinen Augenblick länger hätte sie es in diesem Keller ausgehalten. Als sie sich wieder in den Hof gerettet hatte, geschüttelt von Ekel und Entsetzen, hatte sie sich erbrochen. In die Villa zurückgekehrt, hatte sie sich alle Kleider vom Leib gerissen und Emma eingeschärft, sie samt und sonders zu waschen, Mantel, Hut und Muff zum Lüften über Nacht ins Freie zu hängen und die Handschuhe aus feinem Baumwollgarn zu kochen, hatte sich ein Bad zubereiten lassen und sich dreimal eingeseift. Nur zum Haare Waschen war keine Zeit mehr gewesen, die langen Haare brauchten Stunden, um zu trocknen, und an ihrem Salon-Abend bestand Maman auf Margarethes Anwesenheit, da gab es kein Entkommen. So hatte sie die Haare nur von Emma am offenen Fenster ausbürsten und danach mit Parfüm bestäuben lassen. Ihr schien, dass man durch den Rosenduft hindurch den Mief immer noch roch.
Und in einer solchen Luft, in diesem feuchten Moder lebten Tag und Nacht fünf kleine Kinder mit ihrer Mutter. Und klebten Tüten.
»Die Mädchen können beim Kleben noch nicht recht mitarbeiten, sie sind noch zu ungeschickt, aber beim Falten helfen sie auch schon!«, hatte Anna Brettschneider entschuldigend gestammelt – als bedürfe es einer Rechtfertigung, dass die beiden blassen kleinen Geschöpfe tatenlos im Bettzeug vergraben auf dem Strohsack kauerten! Zu immer weiteren Rechtfertigungen hatte sie ausgeholt: »Trotzdem reicht es nicht. Bisher hab ich jeden Monat was von meinem Hausrat ins Leihhaus getragen, aber jetzt hab ich nichts mehr, den Topf und den Eimer brauch ich doch und das eine Bett auch, sonst kündigt mir meine Schlafgängerin und ich verlier auch noch die paar Pfennige, die sie für den Schlafplatz zahlt. Aber wenn ich eine Nähmaschine hätte, eine Singer, mit der man Damenkonfektion nähen kann …«
Dieser flehende Blick – der ließ sich nicht abwaschen wie der Gestank.
»Sie werden Ihre Nähmaschine bekommen«, hatte sie hastig versprochen, »darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Dabei war sie zu so einem Versprechen überhaupt nicht berechtigt. Sie hatte in dem Wohltätigkeitsverein, dessen Vorsitzende ihre Mutter war, nichts zu entscheiden. Nur auf deren beharrliches Drängen hin – es sei Zeit, mit ihren dreiundzwanzig Jahren endlich einmal Interesse an christlicher Nächstenliebe und sozialer Verantwortung unter Beweis zu stellen und den ihr angemessenen Platz in der Gesellschaft auszufüllen – war sie zur letzten Sitzung des Komitees mitgekommen und hatte den Auftrag übernommen, eine gewisse Anna Brettschneider zu besuchen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, worauf sie sich einließ.
Die Bittschrift Anna Brettschneiders hatte ganz passabel gewirkt, sehr devot zwar und reichlich altertümlich im Ton, aber die Handschrift war ordentlich gewesen und die Orthografie auch nicht schlimmer, als zu erwarten war. Sie habe eine Lehre als Damenschneiderin gemacht, hatte Frau Brettschneider ausgeführt, vor ihrer Ehe und bis zum ersten Kind in einer Werkstätte für Damenoberbekleidung der besseren Kreise gearbeitet und sei unverschuldet in Not geraten, weil ihr Ehemann sie verlassen und unversorgt mit fünf kleinen Kindern zurückgelassen habe. Wenn sie eine Singer-Nähmaschine hätte, so würde sie hoffen, durch Heimarbeit ihre Kinder ernähren zu können, was derzeit gänzlich unmöglich sei. Als alleinverdienende Ernährerin sei es auch ganz ausgeschlossen, die Raten zu erwirtschaften, um eine Nähmaschine abzustottern. Deshalb bitte sie um der christlichen Barmherzigkeit willen untertänigst darum, von den hochwohlgeborenen wohltätigen Damen eine selbige gestellt zu bekommen …
Wie hatte sie, Baronesse Margarethe von Zug, da ahnen können, in welch einen Sumpf von Elend und Grauen sie geraten würde? Die Schneiderin, die zum Maßnehmen und Anprobieren in die Villa kam, sah immer sauber und adrett aus und duftete angenehm nach Lavendel.
Sie war naiv genug gewesen, eine Person zu erwarten wie diese Schneiderin – und fünf rotwangige reizende Kinder.
Warum hatte ihr niemand gesagt, dass es solch entsetzliche Zustände gab, im Deutschen Kaiserreich, 1895, in der Reichshauptstadt, praktisch vor ihrer Haustür?
Nun gut, gelesen hatte sie schon hin und wieder von Wohnungsnot und Wohnungselend, vom Unwesen des Schlafgängertums und unsittlichen Zuständen, aber das waren Worte gewesen, mit denen sich keine Vorstellungen verbunden hatten. Nun waren es Bilder. Und schlimmer noch: Gerüche.
Sie wusste nicht, wie sie die wieder loswerden sollte.
Ob die Mutter auch solche Wohnungen kannte und solche Verhältnisse? Als Vorsitzende des Wohltätigkeitsvereins Misericordia sollte sie das wohl. Wie konnte sie dennoch jede Woche eine Gesellschaft mit fünfgängigem Menü geben und sich mit jungen Künstlern schmücken?
»Wie modern«, flüsterte ihre Mutter nach Beendigung des Stückes der neben Margarethe sitzenden Generalin von Klaasen zu. »Das ist die Musik der Zukunft, deren Geburtsstunde wir hier miterleben dürfen.«
»Die Sterbestunde der guten alten Klassik wäre mir lieber«, gab diese trocken zurück, während der höfliche Applaus einsetzte, und blinzelte Margarethe zu. »So blass, meine Liebe? Lösen diese schrägen Töne bei Ihnen auch Migräne aus?«
»Ich muss zugeben, dass ich kaum zugehört