Es war in Berlin. Gabriele Beyerlein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Beyerlein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738018554
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Pfennige darf die Brühe nicht kosten, sonst zahlt er noch zu viel, weil er die Preise nicht kennt.«

      Die Jungen nahmen den Topf und stürmten wieder davon, nur der kleine Kalle blieb zurück und drängte sich an die Mutter. Doch diese konnte ihn nicht auf den Schoß nehmen, sie musste ja nähen. So kauerte er sich ihr zu Füßen hin, steckte sich den Daumen in den Mund, umfasste einen Zipfel von ihrem Rock und lehnte seinen Kopf an ihre Knie.

      Jemand müsste sich um den Kleinen kümmern!, dachte Clara. Aber wie denn, wenn keine Zeit war? Wie gut es Moritz und Stine hatten, wie Jenny die beiden knuddelte und herzte, sogar mit ihnen spielte. Und sie, Clara, tat es auch, wenn sie auf die beiden aufpasste. Nur für ihren eigenen Bruder hatte sie kaum ein paar Minuten.

      So wie ihre Mutter, ein Kind nach dem andern, so wollte sie es einmal nicht haben. Und je mehr Kinder man hatte, desto mehr Arbeit musste man annehmen, um sie durchzubringen, und desto weniger Zeit hatte man für sie und den Haushalt.

      Jenny sagte, sie werde nicht mehr bekommen als höchstens noch eines. Weil es beim dritten Kind schon eng werde und ohne Heimarbeit nicht mehr gehe und beim vierten die Not anfange.

      Aber wie sie das machen wollte, dass es nicht mehr wurden?

      Wenn meine beiden Schwestern nicht an Diphtherie gestorben wären, dachte Clara, und zwei kleine Brüder bald nach der Geburt, und wenn nicht eines eine Totgeburt gewesen wäre, dann wären wir zehn. Dann müssten wir auch im Keller hausen.

      Mein Gott, was denke ich da! Hilde und Anne … Josef und Tobias … das totgeborene Mädchen, das nie einen Namen bekommen hat und nicht die heilige Taufe …

      Schnell bekreuzigte sie sich.

      Den Packen mit den sorgfältig in ein Tuch eingeschlagenen Schals unter dem Arm stieg Clara mit Lisa die Treppe zum zweiten Stock hinauf und ging den langen Flur entlang. Links die Stuben, rechts die Küchen. Nur eine einzige trübe Funzel brannte, aber einige Türen standen offen und ließen Licht in den Flur. Man sah Familien beim Abendessen und Frauen am Herd oder an der Nähmaschine, hörte Kinder lachen, streiten und schreien, wie Clara es auch aus ihrem Haus gewöhnt war. Jennys Wohnung aber war anders. Sie lag am Ende des fensterlosen Flures, hatte ineinander gehend Küche, Kammer und Stube und war ganz getrennt von den anderen. Die Küche schön groß, eine richtige Wohnküche mit einem Fenster zum zweiten Hof! Und daneben Jennys gute Stube mit zwei schönen großen Fenstern ebenfalls zum zweiten Hof, da kam bei Tag richtig viel Licht herein und Luft sowieso. Die Kammer befand sich auf der anderen Seite der Küche mit einem Fenster zum dritten Hof. Hier war es dunkler, aber was machte das, in der Kammer wurde ja nur geschlafen! Eine Wohnung war das, wie sie auch ein Kleinbürger haben könnte, ein Handwerker oder ein Eisenbahner oder ein kleiner Postbeamter, der hinter dem Schalter saß.

      Aber Heinrich, Jennys Mann, war ja auch kein einfacher Arbeiter, sondern was Besseres. Ein gelernter Eisengießer war er mit einer richtigen Lehre und hatte während seiner Militärzeit als Bursche bei einem adligen Oberst gedient und feines Benehmen gelernt, und jetzt war er Vorarbeiter in einer Maschinenfabrik und verdiente gut. Jenny hatte einfach Glück.

      Clara klopfte und öffnete die Tür, trat in die Küche, stockte. Gewöhnlich, wenn sie kam, um auf die Kinder aufzupassen, war Heinrich schon weg, aber nun saß er am langen Küchentisch, rauchte eine Pfeife und las Zeitung. Und ausgerechnet heute hatte sie Lisa dabei, wo sie doch gar nicht wusste, ob es ihm recht war, dass sich zwei an seinem Tisch satt aßen!

      Unsicher grüßte sie den großen Mann und sagte dann zu Jenny gewandt, die – schon in ihrem guten schwarzen Kleid, aber mit vorgebundener Schürze – am Spültisch stand: »Ich hab heute Lisa mitgebracht, wenn es dir recht ist. Sie muss noch Hausaufgaben machen und daheim hat sie nicht so die Ruhe. Und wir teilen uns das Essen, aber wir essen auch nicht mehr als sonst ich allein.«

      »Quatsch nicht!«, erwiderte Jenny, ohne das Abspülen zu unterbrechen. »Das Essen reicht für euch beide, Sauerkraut und Kartoffelbrei, eine Blutwurst, eine Leberwurst und auch noch ein Stück Bauchspeck. Ihr könnt alles aufessen. Einer meiner Kostgänger hat heut Mittag nicht so den rechten Appetit gehabt, hat wohl gestern zu tief ins Glas geschaut.« Sie lachte.

      »Das kannst du laut sagen«, stimmte Heinrich zu. »Ich predige ihm immer, er soll keinen Schnaps saufen, mit der Branntweinsteuer unterstützt er den Klassenstaat! Aber das ist in diesen Schädel nicht reinzubekommen, wahrscheinlich hat er sich sein bisschen Grips schon weggesoffen. Wir sollten uns nach einem Ersatz für ihn umsehen, Jenny. Einen guten Genossen.«

      »Das wäre mir recht«, sagte Jenny. »Aber das ist deine Sache. Bring du mittags aus deiner Fabrik zum Essen mit, wen du für richtig hältst. Hauptsache nur, er zahlt pünktlich und benimmt sich. Ich will keine Zoten, wegen dem Kleinen. Wenn ich denke, was ich als Kind alles mit anhören musste, als ich daheim in der Gastwirtschaft bedient habe – das sollen meine Kinder nicht hören. Nur wenn die Sozis heimlich bei uns getagt haben, da hab ich gern die Ohren gespitzt.«

      Heinrich nickte. »Sag ich doch: einen guten Genossen. Ich hab da auch schon einen im Auge. Der liest pünktlich den Vorwärts und ist auch sonst sehr gebildet, den halben Faust kann der auswendig.«

      »Die halben Weber wären mir lieber«, antwortete Jenny.

      »Hast auch recht«, stimmte er zu. »Ich werd es ihm ausrichten. Na also, dann will ich mal, nicht dass ich noch zu spät zur Versammlung komme. Schön, dass du da bist, Clara, und du auch, Lisa. Sonst könnte meine Jenny nicht in ihre Arbeiterinnenschule, und dann ist die ganze Woche nichts mit ihr anzufangen, so sauer ist sie dann.« Er grinste und gab Jenny einen schallenden Kuss.

      »Es sei denn, du würdest mal zu Hause bleiben und auf deine Kinder aufpassen«, meinte Jenny.

      »Also hör mal!«, erregte er sich und zog die Augenbrauen zusammen. »Du weißt genau, mein Abend gehört der Partei! Soll ich etwa mit den Kindern zu Hause sitzen, Schlaflieder singen und Windeln wechseln?«

      »Warum nicht?«, fragte Jenny und sah ihn herausfordernd an.

      Clara hielt den Atem an. Was die sich traute, ihre Freundin! Einem Mann wie Heinrich eine solche Antwort zu geben!

      Heinrich lief rot an. Doch ehe er explodierte, fuhr Jenny seelenruhig fort: »Eines Tages, in der klassenlosen Gesellschaft, auf die wir alle warten, eines Tages sind alle Menschen gleich! Du kennst doch deinen Bebel: Frau und Arbeiter haben gemein, Unterdrückte zu sein. Dem Sozialismus gehört die Zukunft, das heißt in erster Linie dem Arbeiter und der Frau. Wenn dann aber Männer und Frauen wirklich gleich sind – vielleicht wickeln dann die Männer genauso die Kinder wie die Frauen und bleiben auch mal zu Hause bei ihnen, damit die Frauen im gleichen Maß an gesellschaftlicher Produktion teilhaben können wie sie.«

      Heinrich schnappte nach Luft. Gleich geht er an die Decke, dachte Clara, merkt Jenny das nicht?

      Doch diese hatte sich in Fahrt geredet: »Aber bis dahin müssen wir eben noch kämpfen gegen den Klassenstaat und das Kapital: für die Befreiung des Proletariats, wir proletarischen Frauen und Männer gemeinsam, Hand in Hand! Darum müssen wir Frauen uns politisch bilden – auch wenn man uns die politische Tätigkeit verbietet –, damit wir gerüstet sind für den Kampf an der Seite der Männer! Und deshalb muss ich jetzt in meine Arbeiterinnenschule!«

      Heinrich brach in lautes Gelächter aus und gab Jenny einen derben Klaps. »Meine rote Jenny! Ich sag's ja! An der ist ein Revolutionär verloren gegangen! Na, dann bilde dich mal schön! Wer weiß, eines Tages führst du ein Agitationskomitee, hältst Reden vor Tausenden von Arbeiterinnen und schreibst Artikel für die Gleichheit! Und nun schönen Abend!« Noch einmal lachte er laut, dann nahm er Jacke und Mütze vom Haken und verschwand.

      Ganz heimlich stieß Clara einen erleichterten Seufzer aus. Jenny aber band sich die Schürze mit einer Gelassenheit ab, als hätte sie nicht eben beinahe einen Ehestreit provoziert. Manchmal konnte Clara über ihre Freundin im Stillen nur den Kopf schütteln. Hoffentlich trieb die es eines Tages nicht zu weit …

      Lisa nahm den kleinen Moritz auf