Es war in Berlin. Gabriele Beyerlein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Beyerlein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738018554
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dem Muff, schob sich den halben Schleier zurück, der an der modischen Pelzkappe befestigt war, und lächelte mühsam. Dann nestelte sie einen Zettel hervor. »Ich habe hier eine Anschrift von einer Anna Brettschneider, die ich aufsuchen möchte. Aber ehe ich lange suche, wäre ich für Ihre Auskunft dankbar. Hier steht nur Hinterhof aber nicht welcher – und es gibt ja wohl noch zwei?« Damit machte sie eine Kopfbewegung zur nächsten Tordurchfahrt hin, durch die man auf den letzten Torbogen und dicht dahinter auf das vierte, das letzte Hinterhaus der Mietskaserne sah.

      »So ist es«, erwiderte Jenny. Und dann zu Clara: »Kennst du eine Anna Brettschneider?«

      Clara nickte. »Früher hat sie in unserem Haus gewohnt. Sie hat fünf Kinder und keinen Mann mehr, meine Brüder stecken manchmal mit denen zusammen, aber meistens müssen die ja Tüten kleben. Sie wohnen jetzt im vierten Hinterhaus im Keller.«

      »Das sagt alles!« Jenny seufzte tief. Dann runzelte sie die Stirn und sah die fremde Dame herausfordernd an. »Was wollen Sie denn von Anna Brettschneider?«

      »Ich will nichts von ihr. Es ist umgekehrt«, erwiderte diese abwehrend. Eine leichte Röte war in ihre Wangen gezogen. »Sie hat eine Bittschrift wegen einer Nähmaschine an unser Wohltätigkeitskomitee gerichtet. Mein Auftrag ist es, abzuklären, ob wirklich Bedürftigkeit vorliegt. Wenn Sie mir also …«

      »Bedürftigkeit!« Jenny lachte, ein Lachen so bitter und verächtlich, dass Clara förmlich zusammenzuckte. »Ich kenne sie nicht, diese Anna Brettschneider, aber eines dürfen Sie mir glauben, meine hochwohlgeborene Dame: Wenn eine im Keller im letzten Hinterhaus wohnt und fünf Kinder hat und keinen Ernährer, dann ist sie bedürftig! Und was so eine braucht, das ist gottverdammt noch mal keine Wohltätigkeit, sondern Gerechtigkeit! Aber gehen Sie nur hin, gehen Sie und überzeugen Sie sich!« Damit ließ Jenny die Dame einfach stehen, riss Clara Moritz vom Arm und schob den Kinderwagen so heftig auf den rechten Hauseingang zu, dass ihre Bewegungen vor Zorn zu sprühen schienen.

      Die Wangen der Dame waren inzwischen dunkelrot. Wenn sie nun beleidigt war und umkehrte, nur weil Jenny sie vor den Kopf gestoßen hatte! Dann wäre die einzige Chance vertan, Anna Brettschneiders Not zu lindern. Wo Anna doch von nichts anderem redete, als dass sie eine Nähmaschine bräuchte, um für einen Zwischenmeister Blusen oder Oberhemden zu nähen, damit sie ihre Kinder besser durch Hausindustrie ernähren könnte als mit diesem elenden, miserabel bezahlten Tütenkleben. Weil sie die Kinder ja nicht alleine lassen konnte, um in einer Fabrik zu arbeiten, so klein, wie die Kinder noch waren, und weil sie doch allesamt hungerten und schon ganz elend aussahen …

      »Jenny meint es nicht so«, murmelte Clara entschuldigend. Bittend blickte sie die fremde Dame an. »Anna Brettschneider ist ganz bestimmt bedürftig! Und wenn Sie ihr eine Nähmaschine schenken, dann helfen Sie ihr aus höchster Not. Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.«

      »Danke, sehr freundlich«, antwortete die Dame. Ihre Stimme klang auf einmal recht belegt. Vor ihr her ging Clara durch die Tordurchfahrt in den dritten Hof. »Mein Gott!«, rief die Fremde aus. »Ist es hier eng und düster!«

      Claras Blick ging gleichgültig durch den etwa vier Meter breiten, langgestreckten Hof, der außer den aufgereihten Müllkübeln und einigen windschiefen Verschlägen an der Hauswand keinerlei Einrichtung bot. Wenn die Dame sich schon über den dritten Hof aufregte, was mochte sie dann erst zum vierten sagen? Schulterzuckend erwiderte sie: »Im Winter scheint hier kein Sonnenstrahl herunter, aber im Sommer schon. In den vierten Hof scheint die Sonne nie.« Sie redete sich in Fahrt, auf einmal fand sie es gut, der Dame das alles zu erklären: »Früher, hab ich gehört, war dieser Hof genauso groß wie die beiden vorderen. Aber dann hat der Besitzer noch das zusätzliche Hinterhaus reinbauen lassen, dadurch wurde es so eng.«

      Das sei die reine Profitgier gewesen, die den Hausbesitzer zum Bau dieses schmalen weiteren Hinterhauses getrieben habe, hatte Jenny gesagt. Mit den kleinen Wohnungen für die armen Leute ließe sich mehr Geld verdienen als mit den großen Wohnungen für die Reichen. Und was schere es den Hausbesitzer, wenn durch den Bau des zusätzlichen Gebäudes die winzigen Wohnungen und Werkstätten im letzten Hinterhaus zu finsteren Löchern würden, er müsse ja nicht drin wohnen, er hätte sechs Zimmer im Vorderhaus, und bei der Wohnungsnot bekäme er seine miesen Rattenlöcher trotzdem los. Aber so sei das nun mal im Kapitalismus und es würde immer schlimmer werden, immer mehr würden die Massen verelenden bis zum großen Zusammenbruch. Oder so ähnlich.

      Clara verstand nicht alles, was Jenny ihr immer über die Kapitalisten erklärte. Aber sie hatte genug verstanden, um zu wissen, dass man davon nichts zu einer vornehmen Dame sagen durfte, die über das Schicksal von Anna Brettschneider entschied. Auf einmal wurde Clara angst, sie könnte bereits durch ihre Bemerkung die Dame verärgert und Anna geschadet haben. Deshalb beeilte sie sich zu beteuern: »Aber im neu eingebauten Hinterhaus ist es gut, da wohnen nämlich wir. Alles modern, sogar für jedes Stockwerk auf halber Treppe zwei Wasserklosetts. Im letzten Hinterhaus müssen die Leute ja noch in den Hof zur Abortanlage. Früher hat Anna Brettschneider sich auch bei uns eine Wohnung leisten können, Küche und Stube, genau wie wir. Aber seit ihr Mann sie verlassen hat, musste sie nach hinten ziehen, in den Keller in einen einzigen Raum. Wie soll man auch mit Tütenkleben das Geld verdienen für eine so teure Wohnung wie unsere! Mit einer Nähmaschine könnte sie wenigstens aus dem Keller raus, meint sie. Jetzt kommen Sie, wir können hier entlang!«

      Sie führte die Dame über den dritten Hof nach links und dann zwischen dem Haus und dem Seitenflügel durch einen Spalt in den vierten Hof. Schmal war er wie eine enge Schlucht, keine drei Schritte breit. Rußgeschwärzt die fensterlose Rückwand des dritten Hinterhauses, rußgeschwärzt auch die Front des letzten Hauses. Fünf Stockwerke ragten die Gebäude in die Höhe und schlossen das Licht aus. Es war fast so dunkel, als sei schon Nacht. Trotz der Winterluft hing ein übler Geruch in dem hohen Schlauch. Ein kleines Mädchen lief mit einem randvoll gefüllten Pisspott zur Haustür heraus und strebte den Appartements zu, den an die Mauer zum Nachbargrundstück gebauten Klosetts. Aus dem Pott schwappte es der Dame vor die Füße. Diese wurde blass und hielt sich ihr spitzengesäumtes Taschentüchlein an die Nase. Wenn die im Sommer hierher käme und den Gestank riechen würde, der dann hier herrscht, würde sie glatt in Ohnmacht fallen, dachte Clara.

      Sie grinste vor sich hin und stieß die Tür des Treppenverschlages auf, der in den Keller des letzten Hinterhauses hinunterführte. Der Geruch nach Moder, Kohlsuppe, Zwiebeln, Petroleum, Pisse und kaltem Rauch, der ihnen entgegenschlug, nahm selbst ihr beinahe den Atem. Dunkel war es auf der steilen Stiege, nur eine einzelne rußige Petroleumlampe brannte unten im langen Kellerflur. Vorsichtig stieg Clara die schmalen Treppenstufen hinunter. Hinter sich hörte sie einen unterdrückten Aufschrei der fremden Dame und etwas wie ein Würgen. Eine Form von Genugtuung stieg in ihr auf. Für Anna Brettschneider konnte das nur gut sein. Die Dame wollte sehen, ob Anna Brettschneider wirklich bedürftig war. Sollte sie es sehen!

      Clara eilte im düsteren Gang vorwärts, zählte die Türen ab, klopfte an die vierte – sie wusste, sie gehörte zu dem Kellerloch, das Anna mit ihren Kindern und einer Schlafgängerin bewohnte –, und öffnete sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Anna Brettschneider saß im trüben Schein einer Petroleumfunzel mit ihren beiden Großen, dem siebenjährigen Ludwig und dem sechsjährigen Hans, über Tüten und Leimtopf gebeugt am Tisch. Überall stapelten sich die fertigen Tüten und die Packen braunen Papiers. Aus einem Pappkarton drang das Wimmern eines Babys. Zwei kleine, bleichgesichtige Mädchen hatten sich in das Bettzeug gewühlt, das den neben einem Bett am Boden liegenden Strohsack bedeckte, hatten sich die Decken über den Kopf gezogen und starrten ihnen daraus entgegen.

      Als Clara das letzte Mal hier gewesen war, hatten an dieser Stelle noch zwei Betten gestanden. Nun war das eine wohl versetzt worden wie fast der ganze Hausrat. Auf dem Herd kochte ein Kessel mit Wäsche, wabernder Dunst hing in der Luft, das einzige Kellerfenster ging in einen finsteren kleinen Luftschacht, die verschimmelten Wände schimmerten vor Feuchtigkeit.

      »Anna«, sagte Clara, »ich bring dir eine Dame vom Wohltätigkeitsverein. Wegen der Nähmaschine.«

      Anna Brettschneider sprang auf, wischte sich die Hände an der Schürze ab, putzte dann mit der Schürze den Stuhl, auf dem sie eben noch gesessen hatte, trieb die Jungen an, aufzustehen und sich zu verbeugen,