Es war in Berlin. Gabriele Beyerlein. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Beyerlein
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738018554
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Elend.«

      »So schlimm?«, fragte Frau von Klaasen.

      »Über alle Maßen grauenerregend«, stöhnte sie.

      »Sei nicht so überspannt, Margarethe«, gab die Mutter zurück. »Diese Menschen empfinden ihr Elend nicht so, wie wir das tun. Sie kennen es nicht anders.« Damit stand sie auf und trat nach vorn, dankte dem Künstler mit einer souverän vorgetragenen kleinen Rede, schloss mit einem Sinnspruch und lud die Anwesenden zu zwanglosem Gespräch in die dem Musiksaal gegenüberliegenden Räumlichkeiten ein – den Salon und das Herrenzimmer.

      »Mein schönes Fräulein, darf ich's wagen?«, fragte Hauptmann von Klaasen und hielt Margarethe mit einer knappen Verbeugung den Arm hin. »Da sowohl Ihr Adel als auch Ihre Schönheit außer Frage stehen, habe ich hoffentlich mit einer Abfuhr nicht zu rechnen?« Er lächelte, als sei er selbst erstaunt darüber, wie geistreich er sich durch seine Bemerkung als Goethe-Kenner erwiesen hatte. Wenn er wüsste, wie oft sie schon mit dergleichen Anspielungen auf ihren Namen malträtiert worden war!

      Um seiner Mutter willen, der liebenswerten Generalin von Klaasen, bemühte sie sich um ein strahlendes Lächeln und stand auf.

      Alle Welt schien verschworen, den Hauptmann und sie zusammenzubringen, seit Jahren wurde er auf den verschiedensten Gesellschaften zu ihrem Tischherrn bestimmt. Die Themen, über die sie mit ihm zu reden wusste, grenzten sich mit jedem Gespräch mehr ein. Weder gehörten der Militäretat noch die deutschen Kolonien in Afrika oder die Vision einer mächtigen deutschen Kriegsflotte zu den Gesprächsstoffen, die sie bevorzugte. Dennoch hatte ihre Mutter ihn heute schon wieder neben sie gesetzt.

      Ihr schien, die Augen ihrer Mutter und die der Generalin ruhten voller Spannung auf ihnen. Fast als sei ihre Verlobung schon beschlossene Sache.

      Es schien ja auch alles zu passen: der alte Adel auf beiden Seiten, seine Aussicht auf eine glänzende Militärkarriere als Sohn eines verdienten Generals und ihre auf eine nicht weniger glänzende Mitgift als einzige Tochter eines reichen Bankiers. Aber man wollte doch aufsehen zu seinem Mann – und dies nicht nur im wörtlichen Sinne.

      Sie nahm den ihr angebotenen Arm. Wie immer kam sie sich neben ihm zu groß vor. »Ich hoffe nur, Sie erwarten nicht von mir, dass ich Ihnen nun getreu meiner berühmten Namensvetterin die Gretchenfrage stelle«, sagte sie lächelnd.

      Seinem Gesicht war anzusehen, dass er, verzweifelt um die richtige Antwort bemüht, seinen Faust durchging. »Wie halten Sie's mit der Religion«, half sie ihm mit einem kleinen Lachen auf die Sprünge und ging neben ihm her in den Salon.

      »Oh!«, meinte er ebenso überrascht wie ratlos. Fast tat er ihr leid und sie suchte schon nach einer eleganten Form, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, da sprang er an, als habe sie die Frage ernst gemeint. »Als Hofprediger Stoecker noch im Dom amtierte«, begann er mit Emphase, »war es ein Erlebnis, den Gottesdienst zu besuchen. Zu schade, dass er sich bei Hofe in Ungnade gebracht hat – und in die Kirche der Stadtmission will ich denn doch nicht zu ihm gehen, man muss schließlich wissen, wo man hingehört. Aber dieser Mann wusste zu Herzen gehend zu predigen. Pastor Stoecker ist, wenn ich so sagen darf, eine wahre Posaune des Herrn.«

      »Stoecker?«, fuhr Margarethes Vater herum, der vor ihnen in den Salon getreten war. »Gehen Sie mir mit dem! Früher, als er mit seiner Christlichsozialen Partei die Arbeiterschaft von den Sozialisten trennen und für die Treue zu Kirche, Monarchie und Vaterland retten wollte, da hat er mir insgeheim nicht schlecht gefallen – auch wenn man das vor Bismarck nicht zu laut sagen durfte. Aber mit dem Programm hat Stoecker ja leider Schiffbruch erlitten: Die Arbeiter sind ihm nicht in Massen zugeströmt, trotz Schrippenkirche und Kaffeepott. Doch was er sich in den letzten Jahren leistet – diese Anbiederung an das Kleinbürgertum in all seiner Beschränktheit!«

      »Ich will Ihnen nicht widersprechen – Sie als Reichstagsabgeordneter, ich weiß, ich habe nicht Ihren politischen Weitblick«, warf der Hauptmann ein, »aber die Leitung der Stadtmission, die Diakonie, das soziale Engagement!«

      »Schön und gut«, räumte der Vater ein, »Stoeckers soziales Werk ist eindrucksvoll. Die Kirche soll sich der Armen und Schwachen annehmen, alles sehr christlich und respektabel, nichts dagegen einzuwenden. Aber seine antisemitischen Hetzreden, mit denen er an die niedersten Instinkte und Vorurteile der Kleingeister appelliert! Geradezu demagogisch. Und nun hat er in den vergangenen Jahren damit auch noch Einfluss auf das Parteiprogramm der Deutschkonservativen gewonnen! Zersetzender jüdischer Einfluss – was ich darüber am liebsten sagen würde, gehört nicht vor die Ohren einer jungen Dame!«

      »Ich meine Stoecker ja auch nicht als Politiker, sondern als Prediger«, versuchte Hauptmann von Klaasen den Redeschwall zu unterbrechen, doch der Vater sprach einfach weiter: »Was wären wir denn ohne die Juden? Wo man hinschaut, allein schon in Berlin, wir könnten doch einpacken ohne sie! Banken und Zeitungswesen sowieso, aber auch die Wirtschaft, man denke nur an die Konfektionsindustrie, daneben die Wissenschaften, die Medizin, die Künste – wo stünden wir denn ohne die Juden? Ich mache meine besten Geschäfte mit ihnen und schäme mich dessen nicht.«

      »Sicher, darin bin ich ganz Ihrer Meinung, zumal auch Seine Majestät, ich wollte nicht …«, versuchte Hauptmann von Klaasen Boden zu gewinnen, doch Baron von Zug hatte sich offensichtlich festgebissen. Als hielte er eine Rede im Reichstag, stand er da und überschüttete Margarethes Tischherrn mit weiteren politischen Ausführungen.

      Ihr war es nur recht. Mit einem lächelnden »Dann will ich die Herren bei der Lösung der Weltprobleme nicht länger stören« machte sie sich davon. Wenn es nur einen Vorwand gäbe, sich ganz zurückzuziehen! Immer unerträglicher erschien ihr dieser Abend nach den Erlebnissen des Nachmittags, immer stärker sehnte sie sich nach der Abgeschiedenheit ihres Zimmers. Aber in der Forderung nach der Erfüllung gesellschaftlicher Pflichten war ihre Mutter unerbittlich.

      Nun strebte diese auch noch auf sie zu, einen unbekannten jungen Mann in einem Frack, der mit seinen Glanzstellen verdächtig nach Leihhaus aussah, im Schlepptau. »Hier, Margarethe, ich will dir unseren jungen Dichter vorstellen, in einer Woche wird er uns mit seinem Werk erfreuen, heute weilt er schon einmal unter uns, um sich etwas einzugewöhnen. Er ist ein bedeutender Naturalist: Johann Nietnagel – meine Tochter Margarethe.« Damit überließ die Mutter sie ihrem Schicksal.

      »Dann will ich uns erst einmal etwas zu trinken ordern«, sagte sie mit jenem antrainierten Lächeln, das sich in Gesellschaft fast ohne ihr Zutun auf ihrem Gesicht einstellte, und gab dem Diener einen Wink. »Nach diesem Musikgenuss« – sie sprach das Wort in unüberhörbaren Anführungszeichen – »haben wir uns das redlich verdient, finden Sie nicht auch?« Zustimmung heischend schlug sie ein kleines ironisches Lachen an.

      »Mich hat diese Musik sehr beeindruckt«, erwiderte er, ohne auf ihre Ironie einzugehen. Seine Stimme war tiefer, als sie es sich vorgestellt hätte, und von einer Klangfülle, wie sie es nur von einem Sänger erwartet hätte. Und dass das Erste, was er zu ihr, der umschmeichelten Tochter des Hauses, sagte, ein Widerspruch war, ließ sie aufhorchen.

      »Freilich nicht jedermanns Sache«, fuhr er fort, sich anscheinend nicht im Geringsten der Unhöflichkeit seines Verhaltens bewusst. Oder scherte er sich nur nicht darum? »Nicht der leichte Geschmack, nicht eingängig und unterhaltsam. Dafür ganz und gar originär. Aber was ich noch wichtiger finde: Für mich spricht eine Wahrheit aus dieser Musik, ein aufrichtiger Schmerz und eine Leidenschaft, wie sie nur der haben kann, der das Leiden kennt und daran gewachsen ist.«

      Es war, als öffne sich ihr eine Tür in eine wahrhaftere Welt als die, welche sie kannte. Hier galten nicht die Regeln des gesellschaftlichen Plauderns. Das hier war endlich einmal etwas anderes.

      »Aber entschuldigen Sie, meine Damen, ich habe Anna Brettschneider versprochen, dass sie ihre Nähmaschine bekommt«, erhob Margarethe Einspruch.

      »Dazu warst du nicht autorisiert«, erwiderte ihre Mutter, ganz die Vorsitzende. »Die Mittel, die wir zur Verfügung hatten, sind mit den Unterstützungen, die wir soeben beschlossen haben, fürs Erste aufgebraucht.«

      Da hatte sie den Damen des Wohltätigkeitskomitees in den glühendsten Farben geschildert, in welch unerträglichen