Winterkönig. N. H. Warmbold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: N. H. Warmbold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783073
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so schwach!

      Der Gesang wurde lauter und lauter. Ihr brach am ganzen Körper der Schweiß aus, sie zitterte vor Anstrengung und konnte sich doch nicht bewegen. Mit letzter Kraft riss sie die Hände empor und schrie gellend, gepeinigt vor Angst und Schmerz, übertönte den Gesang, und der Gesang verstummte.

      Irgendwo in einer Kammer weinte ein Kind, in einem Dachzimmer schlug ein Mann seine Frau, in einer Küche schnitt sich jemand mit einem Messer tief ins eigene Fleisch, in einer Schenke prügelten zwei Männer voller Hass aufeinander ein, irgendwo in der Stadt starb ein Mensch.

      Und sie schrie noch immer, jetzt aber nicht mehr ängstlich und schmerzerfüllt, sondern triumphierend und voller Freude, weil sie Macht in sich spürte und eine gewaltige Kraft.

      Mit einem Mal war es strahlend hell im Tempel. Blinzelnd senkte sie die Arme, wandte sich zu Sina und Réa um und lachte befreit auf. Lachte, als sie die zwei auf sich zu laufen sah, lachte, weil die Fackeln wieder brannten, obwohl das jetzt unnötig schien. Lachte, weil sie Lorana und Malin und weitere Tempelwächterinnen hinter ihnen sah, nicht unerwartet, und wurde ohnmächtig.

      * * *

      Er fluchte nicht, das taten genügend andere, brüllte auch nicht herum oder schrie, was das gewesen sei, stieß sein Schwert in die Scheide zurück. Warum überhaupt hatte er blankgezogen? Es war ein Erdbeben gewesen, kein Angriff, ein heftiger Erdstoß, der einen Teil der Männer auf dem Gardehof von den Füßen geholt hatte, nichts weiter. Jetzt standen sie wieder auf, wohl keiner hatte eine ernstliche Verletzung erlitten, und klopften sich Staub und Schmutz von der Kleidung.

      Davian wich kopfschüttelnd Sandars Blick aus und half dem Mann hoch. Hörte Getöse von den Ställen her, schrilles Wiehern, Geschrei und laute Rufe; offenbar drehten die Gäule durch.

      „Der Jäger regt sich …“, Sandar lachte und hustete zugleich. „So nannte es meine Großmutter immer. Erdbeben, besonders diese ruckenden Erdstöße. Gab es zu ihrer Zeit wohl häufiger. Du blutest.“

      Brummend nickte Davian, spuckte aus. „Hab mir auf die Zunge gebissen …“ Er spürte seinen heftigen Herzschlag, spürte das Blut durch seine Adern rasen, war noch immer in Bereitschaft, auf jeden loszugehen, der sich ihm in den Weg stellte. Und den Geschmack des Blutes … Ging es ihm so, Domallen, wenn der den Jäger in sich spürte?

      Und vor diesem mächtigen Stoß, der sogar einen kleinen, wenn auch nutzlosen Abschnitt der inneren Festungsmauer zum Einsturz gebracht hatte: ein Gefühl von Raserei und Zorn, von gewaltigem Hass, dem Wunsch zu töten, wieder und wieder auf jemanden einzuprügeln, solange, bis der sich nicht mehr … In seinen Ohren, seinem Kopf ein immenser Druck, immer mehr, immer stärker anwachsend, die Gier nach Gewalt – so lange, bis er es nicht mehr ausgehalten und geschrien, brüllend sein Schwert herausgerissen hatte, um …

      Doch noch jemand anderes hatte geschrien, nicht hier, nicht in seinem Kopf. Triumphierend hatte es geklungen und wie befreit, als würden die Ketten bersten und endlich Licht … Die Erde hatte gebebt.

      „Der Jäger regt sich, hm?“ Mit dem Handrücken wischte Davian sich das Blut vom Mund.

      „Ihr Spruch.“ Sandar zuckte die Achseln. „Vielleicht, um einem furchtsamen kleinen Jungen die Angst zu nehmen.“

      „Und, hat’s funktioniert?“

      „Nur bedingt, ich hatte immer das Bild von einem schrecklichen, zornigen Ungeheuer mit blutigen Hauern vor Augen, das sich in seinem riesigen Bett wälzt, einem Bett mit wahren Kissenberge, sag‘ ich dir. Das hat sich mir eingeprägt.“

      Davian lachte, doch sein Lachen erstickte sofort. Er spuckte erneut aus, er wurde einfach den ekelerregenden Geschmack nicht los. „Jetzt hab‘ ich ein Bild, ein ziemlich anschauliches sogar.“

      Ein Bild also, und er würde … er wollte, er musste es malen: Diese Gestalt, dieses Wesen, halb Mann, halb Monster, furchterregend und zugleich auf unerklärliche Weise anziehend.

      Überaus männlich und brutal, groß und dunkel, natürlich groß, doch nicht zu groß, kein Riese, vielmehr ein Mensch … ein Mann, ein sehnig-muskulöser Kerl. Dunkle Locken fallen ihm in die Stirn, über die breiten Schultern, tief in den Nacken, Rücken, die Haut seines nur spärlich behaarten Gesichts, seines nackten Oberkörpers von der Farbe dunkler Bronze, wie Erde, wie der Boden des Waldes im Herbst, altes Gold über geronnenem Blut … Doch er zeichnete mit einem Kohlestift – ohne Farben.

      Blutige Hauer? Davian lachte, schüttelte den Kopf, nein, das war Sandars Bild. Sein Gott trug Hörner, weit geschwungen, in sich gedreht; beinah unmöglich zu zeichnen, und doch gelang es ihm, halb in Trance, nicht bewusst, was er da tat. Hinterher war er entsetzt über sein Werk, die vielen irritierenden, verstörenden Einzelheiten. Und in seiner Vorstellung sah er die Farben des Bildes.

      Augen wie Mahlströme aus Sternenlicht, darin irrlichternde Reflexe in Rot und Gold, behaarte Füße wie die Klauen eines Wolfes, die Eckzähne hinter den vollen Lippen etwas zu lang, die Ohren lugten keck und spitz aus den üppigen schwarzen Locken hervor und die Finger endeten in harten, hornigen Krallen.

      Der Jäger an, vor dieser Bettstatt stehend, und doch kam diese ihm wie ein sicherer Hafen vor, wie der einzig friedliche Ort in einer Welt der Düsternis, der Dämonen und Fratzen, nur halb erahnt und erkannt, versteckt, verborgen in den Schatten am Rande … des Bildes.

      Und er, der Gott, der Jäger … vielleicht trug er Hosen aus Leder, vielleicht waren seine Beine mit zotteligem Fell bedeckt, das Gemächt nackt und bloß, bedrohlich wirkend und doch nur halb aufgerichtet, da er sich über sein Lager beugte, zu der Gefährtin, die … Wieso trug sie die Züge des Mädchens, er … Mit einem Aufschrei warf er den Stift von sich und musste gegen dem Impuls kämpfen, das Bild zu zerreißen.

      Er hatte zwei-, dreimal versucht, ihr Abbild aus dem Gedächtnis zu zeichnen, flüchtige Skizzen bloß, aber doch nicht so, auf diese Weise. Nie hatte er sie nackt, oder auch nur halbnackt, gesehen, lasziv und in lustvoller Erwartung, in Berge vielfarbig schimmernder Kissen gelehnt, der nackte Leib ihm dargeboten. Erregend, verlockend und allzu verführerisch, obgleich ihre Hände … Nein! Davian schrie auf, das hatte er nicht …

      Aber genau das hatte er gezeichnet, diese Szene, verstörend, faszinierend, das Beste, was er seit langer Zeit gezeichnet hatte. Ein abscheuliches Meisterwerk, das er weder Sandar – und der war einiges gewohnt – noch sonst irgendwem zeigen konnte.

      Das Bild ließ ihn nicht los, das Geschehen auf dem Bild brannte sich in seine Seele. Fluchtartig verließ er das Zimmer, sein Haus; er brauchte was zu trinken.

      Später, wenn er besoffen genug war, würde er das Bild verbrennen, es in Dutzende Schnipsel zerreißen und sie genüsslich dem Feuer überantworten, einen nach dem anderen.

      Natürlich wusste er genau, dass er dazu nicht imstande sein würde, niemals. Viel eher würde er es irgendwann Sandar oder gar … ihr zeigen. Die Kleine wäre schockiert, entsetzt. Angewidert von ihm, der diese Scheußlichkeit geschaffen hatte. Auch keine angenehme Vorstellung. Außerdem würde sich die Gelegenheit ohnehin nicht ergeben. Er ließ sich schwerfällig an einem Tisch nieder und bestellte gleich eine ganze Flasche.

      Er betrachtete grübelnd seine schmutzigen, geschwärzten Finger und fragte sich, ob sie wohl seiner Zeichnung ähnlich war. Wenigstens ein kleines bisschen? Er hatte nicht sein Idealbild einer Frau gemalt, die sähe … Davian schüttelte den Kopf und setzte die Flasche an, trank. Blöde Idee, eine ganz blöde Idee, er kippte den Stuhl gegen die Wand, lehnte den Kopf an, schloss die Augen und lauschte mäßig interessiert den Gesprächen in der Schenke. Hörte ein paar völlig übertrieben ausgeschmückte Geschichten, an deren Wahrheitsgehalt er zweifelte, Geschichten von plötzlich aufgesprungenen Türen und Fensterläden, von Toren, die seit Jahren klemmten, verrammelt waren und plötzlich offen standen. Nette, unterhaltsame Kneipengeschichten, alle in ihrer Art recht ähnlich, und alle sollten sie sich heute zugetragen haben.

      Von Schäden durch den heftigen Erdstoß hörte er nichts, keine Klagen, und das war tatsächlich bemerkenswert.

      * * *