Winterkönig. N. H. Warmbold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: N. H. Warmbold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783073
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bis sie gefunden hatte, wonach sie suchte: eine Tür, exakt und nahezu fugenlos in den umgebenden Fels eingepasst, kaum von der Wand zu unterscheiden.

      Zufrieden lächelte sie vor sich hin. „Hältst du bitte die Fackel etwas höher, Sina?“

      „Natürlich, aber wonach suchst du eigentlich?“, wollte ihre Freundin wissen.

      „Nach dem Schlüsselloch.“

      „In der Wand?“

      „In der Tür“, erklärte Mara.

      „Welche Tür?“, fragte Sina verwirrt.

      „Du stehst direkt davor. Aber du siehst sie doch, Réa?“

      „Ich sehe sie, aber nur, weil ich schon einmal hier war. Das Schlüsselloch befindet sich in der Nähe des Bodens, dort, wo die beiden Türflügel zusammenstoßen“, gab Réa Auskunft.

      „Danke.“ Mara ging in die Hocke und tastete leise schimpfend nach dem Schloss. Natürlich musste sich genau vor der Tür eine tiefe Wasserlache befinden! Immerhin passte der Schlüssel und Mara stemmte sich gegen die Flügel, die sich schließlich rumpelnd öffneten.

      Es roch durchdringend nach Staub. Und wieder nahm sie diesen metallischen Geruch wahr, fast wie der Geruch nach Blut. Doch vielleicht bildete sie sich das nur ein.

      Hinter der Tür führte ein Flur sofort wieder nach rechts. An seinem Ende befand sich einmal mehr ein Raum für Tempelwächterinnen, um die Ecke öffnete sich der Flur in einen weiten Raum, fast eine Halle. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ein weiterer Raum. Er war ebenfalls recht groß und bis auf steinerne Bänke und Liegen an den Wänden komplett leer.

      „Was ist das für ein Raum?“, fragte Mara.

      „Er dient … diente der Vorbereitung der Priesterinnen auf die Rituale im Tempel“, erläuterte Réa. „Jedenfalls hat Lorana das erzählt, als sie mit mir hier unten war.“

      Der Geruch wurde immer intensiver, schien von der gewaltigen Tür her zu kommen, welche die östliche Wand der Halle beherrschte. Merkwürdigerweise behaupteten Sina und Réa, nichts zu riechen, als Mara sie danach fragte. Aber sie roch etwas, war sich fast sicher, dass sie Blut roch, geronnenes, altes Blut, und dass der Geruch aus dem Raum hinter der Tür kam, dieser Tür, die drohend vor ihr empor ragte, gewaltig, unüberwindlich, undurchdringlich. Eine Tür, die sie und jeden anderen Menschen verhöhnte und verlachte, denn sie hatte kein Schloss, keine Klinke und auch keinen Riegel oder Griff. Eine Tür, die sich nicht öffnen ließ!

      Mara schob und drückte, keuchte vor Anstrengung, doch nichts geschah. Wütend schlug sie gegen die Türflügel. „Verdammter Mist, geh schon auf!“

      „Du solltest hier nicht fluchen, Mara“, mahnte Réa.

      „Wieso nicht? Liegt hinter dieser dummen Tür etwa ein Tempel? Auf der anderen Seite, hinter einer Tür, die gar keine Tür ist! Ich will da hinein und ich werde da auch hinein kommen, weil ich es will! Habt ihr gehört? Ich werde durch diese Tür gehen, ich will es so!“

      „Mara, beruhige dich, und schrei nicht so herum“, bat Réa.

      „Hast du Angst, die Decke könnte einstürzen?“ Sie lachte, es wäre zumindest einen Versuch wert.

      Behutsam legte sie die Hände auf beide Türflügel, begann leise zu summen, veränderte die Tonhöhe, bis sie eine leichte Vibration spürte. Als würde die Tür vor Angst zittern.

      Wieder lachte sie, lauter diesmal. Was für einen Unsinn trieb sie eigentlich? Und dann sprach, oder besser, rief sie die Worte, in der gleichen Tonhöhe, welche die Tür zuvor hatte vibrieren lassen, in einer Sprache, von der sie nicht wusste, dass sie sie überhaupt kannte. „Ich will es so!

      Krachend barsten die Türflügel auseinander, als hätten die gewaltigen Fäuste von Riesen sie aufgestoßen.

      Mara lachte, erfreut und zugleich überrascht. Sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass ihre Taktik funktionieren würde. Von dem aufsteigenden Staub musste sie husten.

      Jetzt war es Sina, die laut fluchte. „Oh heilige Kacke, das ist doch überhaupt nicht möglich! Verdammt, Mara, was hast du getan?!“

      „Die Tür geöffnet.“

      Réa hatte es die Sprache verschlagen. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie immer wieder von Mara zur Tür.

      Dahinter, im Tempel, im Tempel unter dem Tempel, wie Sina ihn genannt hatte, war es dunkel. Das unruhig flackernde Licht der Fackeln erhellte nur ein kleines Stück des Bodens jenseits der Türöffnung.

      Mara wollte bereits hinein, doch Réa hielt sie am Arm zurück, ihre Stimme rau und atemlos vor Anspannung. „Mara, du …“

      „Ja?“

      „Sei bitte vorsichtig.“

      Aufmunternd lächelte Mara ihr zu. Dann gingen sie gemeinsam hinein.

      Noch bevor sie über die Schwelle trat, den Fuß auf den Tempelboden setzte und dabei spürte, wie er erbebte, wie ein schwerfälliger Körper, der nach langem Schlaf erwachte, wusste Mara, dass sie einen großen Fehler begangen hatte.

      Schlagartig erloschen die Fackeln und Finsternis regierte.

      Réa schrie erschrocken auf, Mara klammerte sich keuchend an Sinas Arm.

      „Es ist nur dunkel, Süße, kein Grund, mir den Arm zu brechen“, klang Sinas Stimme durch die Dunkelheit. „Jetzt müssen wir uns den Weg zurück eben ertasten, schöne Aussichten. Réa, alles in Ordnung bei dir?“

      „Ja, ich bin nur erschrocken, als die Fackeln so plötzlich erloschen“, antwortete Réa atemlos.

      Mühsam brachte Mara ihre Stimme unter Kontrolle, trotzdem war deutlich die Angst herauszuhören. „Ich gehe nicht zurück, ich gehe weiter.“

      „Das ist Unsinn, Mara, du siehst überhaupt nichts und könntest im Dunkeln stolpern und dir sonst was brechen“, versuchte Réa sie zu überzeugen. „Wir kommen morgen wieder und …“

      „Nein, ich muss es jetzt tun“, bestand Mara auf ihrem Vorhaben. „Ihr bleibt an der Tür zurück.“

      „Das wäre ja noch schöner, Süße“, protestierte Sina, „ich…“

      „Ich sagte, ihr bleibt hier an der Tür, beide! Ich befehle es euch!“

      „Das wagst du nicht, du kannst uns nicht beide zwingen …“

      „Probiere es aus“, unterbrach sie die Priesterin.

      Ohne ein weiteres Wort verschwand Mara in der Düsternis, achtete nicht auf Réas Proteste und auch nicht auf Sinas dumpfes Stöhnen, als diese vergebens versuchte, sich gegen ihren Befehl zu wehren.

      Sie setzte vorsichtig Fuß vor Fuß, kämpfte gegen die Angst vor der Dunkelheit an, den schier übermächtigen Wunsch zu schreien, weil die Schwärze von allen Seiten auf sie einstürmte, sie zu erdrücken, zu ersticken drohte.

      Das Vibrieren des Bodens verstärkte sich. Gesang ertönte, erst ganz leise, flüsternd, wie aus weiter Ferne, wurde dann lauter, je weiter sie auf den Altarstein oder was immer sie auf der anderen Seite erahnte, zuging. Der Gesang klang nicht wie in Dalgena, nicht wie im Tempel über ihr, wo der Tag allmählich zur Nacht wurde. Er war düster, drohend, fast schrill, und er klang falsch. So wie auch dieser Tempel falsch erschien: der Altarstein stand am verkehrten, am östlichen Ende.

      Oh ja, Sina hatte nicht nur eine Geschichte erzählt, hier waren Menschen geopfert worden, viele Menschen. Sie konnte es spüren, konnte das Blut riechen. Der Geruch war überwältigend, ekelerregend, ihr wurde übel und ihre Beine zitterten.

      Dann endlich stand sie vor dem Altar, oder war es ein Opferstein? Sie fühlte die Masse vor sich, und wenn sie die Hände auf die Oberfläche legte, wäre diese ganz schmierig von warmem Blut, auch wenn es längst weggewischt worden war. Sie unterdrückten ein Stöhnen und fragte sich, ob es vielleicht jemand anderes war, dessen Stöhnen