Smartphone, Sorgen und Salbei. Karin Firlus. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Firlus
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783746793252
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Schmerzensschrei über und die alte Frau bäumte sich auf. Also ordnete die Ärztin einen Ultraschall des Bauchraumes an.

      Eine halbe Stunde später begann die Untersuchung, bei der sich herausstellte, dass Irenes Mutter wohl an akuter Blinddarmentzündung litt. Sie müsse so schnell wie möglich operiert werden, sagte die Ärztin. Allerdings seien beide OPs momentan mit Notfällen belegt, es habe einen schweren Unfall auf der B9 gegeben. Aber sobald einer frei werde, sei ihre Mutter an der Reihe.

      Irene richtete sich auf eine lange Wartezeit im Krankenhaus ein, aber die Ärztin meinte, sie solle heimfahren. Sie wisse nicht, wie lange das Ganze dauern würde, und sollte „etwas Unvorhergesehenes“ passieren, würde sie sie benachrichtigen. Also unterschrieb Irene die Einwilligung zur OP, hinterließ ihre Telefonnummer und fuhr nach Hause.

      Um halb zwölf legte sie sich ins Bett, konnte jedoch nicht einschlafen, weil ihre Gedanken Amok liefen.

      Hätte sie doch im Krankenhaus bleiben sollen? Würde die Operation gelingen oder würde ihre Mutter heute Nacht sterben - ein paar Tage vor Weihnachten? Und wenn ja, wie sollte sie die Beerdigung organisieren, so kurz vor den Feiertagen? Hatte sie für diesen Fall überhaupt alle notwendigen Papiere? Nach einer Stunde stand sie auf und holte die Dokumentenmappe aus dem Fach im Wohnzimmerschrank. Nach kurzer Suche fand sie die Geburtsurkunde ihrer Mutter und das Testament. Die Patientenverfügung lag dahinter – die nahm sie gleich heraus, um sie im Krankenhaus abzuliefern - die Police für die Sterbeversicherung war auch da.

      Irene atmete erleichtert aus und ging zurück ins Bett. Sie wälzte sich hin und her und machte sich Vorwürfe, dass sie überhaupt daran gedacht hatte, dass ihre Mutter sterben könnte. Mit dem Suchen der erforderlichen Unterlagen beschwörte sie ihren Tod doch schon gewissermaßen herauf, rügte sie sich.

      Irgendwann gegen drei fiel sie in einen unruhigen Schlaf. Sie träumte, dass ihr Chef ihr nicht den erforderlichen Tag freigeben wollte, damit sie ihre Mutter bestatten konnte. Daraufhin kündigte sie fristlos.

      Sie wachte kurz nach sechs schweißgebadet auf und heulte hemmungslos.

      Was war das nur für ein Leben? Nichts als Probleme und Aufgaben, die sie überforderten. Womit hatte sie das nur verdient?

      Sie fand dennoch in einen leichten Schlaf zurück, stand um halb acht auf, duschte und frühstückte. Dann fuhr sie ins Heim, um Nachthemden, Handtücher und Toilettenartikel einzupacken; ihre Mutter hatte nämlich nur eine Liste der Medikamente, die sie einnehmen musste, bei sich gehabt.

      Irene zuckte unter dem vorwurfsvollen Blick von Meike zusammen, die sie fragte, wie es ihrer Mutter gehe, woraufhin Irene sagte, sie sei wohl in der Nacht operiert worden, aber Näheres wisse sie noch nicht.

      Im Krankenhaus erfuhr sie, dass ihre Mutter noch auf der Intensivstation lag. Dort hing sie an diversen Apparaturen, aber die diensthabende Schwester versicherte ihr, dass Marga Hofmann die OP den Umständen entsprechend gut überstanden habe und im Laufe des Tages auf Station verlegt werde. Irene atmete auf.

      „Aber es war knapp, der Blinddarm war kurz vor dem Durchbruch!“

      Sie saß am Bett ihrer Mutter, die mit geschlossenen Augen und offenem Mund da lag, und hielt ihre schlaffe Hand. Sie überlegte sich, ob sie die Heimleiterin wegen fahrlässigen Verhaltens belangen sollte, entschied sich aber dagegen. Der Ermessensspielraum, wann ein Mensch an einer akuten Krankheit litt, war bei pflegebedürftigen Alten offensichtlich ein anderer als bei jüngeren Menschen. Irene ertappte sich bei dem hässlichen Verdacht, dass bei der Heimleiterin Gedanken an eine lange Warteliste auf einen Heimplatz bei ihrer Entscheidung, ihre Mutter nicht gleich morgens einweisen zu lassen, eventuell eine Rolle gespielt hatten. Aber wie sollte sie das beweisen? Und vielleicht tat sie der Frau ja Unrecht.

      Sie blieb eine Stunde, dann fuhr sie heim und nahm sich vor, nachmittags noch einmal zu kommen.

      Sie aß ein trockenes Knäckebrot und knabberte an einer Karotte, dann legte sie sich auf die Couch, wo sie gleich darauf einschlief. Gegen zwei wurde sie wach und als sie auf Toilette ging, fuhr sie sich mit der Zunge mehrmals über einen Backenzahn. Sie brühte sich einen Pfefferminztee auf und erst, als durch die heiße Flüssigkeit auf ihrem Zahn ein stechender Schmerz in ihren Kiefer schoss, wurde ihr mit einem Schlag bewusst, dass sie Zahnschmerzen hatte.

      Auch das noch! Sie schaute in den Spiegel, konnte aber nichts Auffallendes entdecken. Im Laufe des Nachmittags wurden die Schmerzen schlimmer und als ihre Zunge das Zahnfleisch um die schmerzende Stelle herum entlangfuhr, bemerkte sie eine Schwellung. Sie ging in die Küche und holte aus ihrer Tiefkühltruhe die kleine Plastikschale heraus, in der sie im Sommer Salbei eingefroren hatte. Sie legte sich ein großes Blatt aufs Zahnfleisch neben dem schmerzenden Zahn und hoffte, dass das Kraut noch nicht zu alt war, um seine heilende Wirkung zu entfalten. Frischer Salbei wäre natürlich besser gewesen, aber den hatte sie nicht. Sie wollte auf diese Weise bis zum Montagmorgen durchhalten, ohne auf Schmerztabletten zurückgreifen zu müssen.

      Dann lümmelte sie auf der Couch, ließ den Fernseher laufen und wappnete sich innerlich für den unausweichlichen Termin beim Zahnarzt am übernächsten Morgen. Zum Glück handelte es sich um den letzten Zahn in der rechten unteren Reihe, das hieß, dass sie voraussichtlich keine Brücke brauchen würde.

      Montagsmorgens wachte sie nach einer unruhigen Nacht, in der sie zwei Mal ein neues Salbeiblatt aufgelegt hatte, mit weniger Zahnschmerzen auf. Sie zwang sich zu duschen und als Frühstück einen Haferbrei zu schlürfen, den sie hasste, der aber sättigte, ohne dass sie ihre Zähne hätte übermäßig belasten müssen.

      Dann rief sie um halb acht im Büro an und sprach, da um diese Zeit noch niemand da war, auf den Anrufbeantworter, dass sie Schmerzen habe, zuerst zum Zahnarzt gehen müsse und noch nicht wisse, wann sie kommen könne. Beim Zähneputzen hatte sie plötzlich einen schlechten Geschmack im Mund. Als sie ausgespült hatte und die Stelle neben dem wehen Zahn im Spiegel betrachtete, war sie zwar gerötet, aber die Schwellung war verschwunden. Erleichtert, dass der Eiter wohl zum Großteil abgeflossen war, fuhr sie los.

      Dann stand sie zehn vor acht vor der Arztpraxis und war überrascht, dass die Tür noch geschlossen war, bis sie das Schild entdeckte, das in Augenhöhe angebracht war.

       Liebe Patienten, unsere Praxis ist vom 23.12. bis einschließlich 03.01. geschlossen. In dringenden Notfällen wenden Sie sich bitte an … Telefonnummer und Adresse des Stellvertreters waren angegeben. Fluchend fuhr Irene in die Stadt, ergatterte die buchstäblich letzte freie Lücke auf dem nahegelegenen Parkplatz und eilte in die Arztpraxis.

      Natürlich stapelten sich die Patienten. Sie hatte keinen Termin, es war Montagmorgen und einen Tag vor Weihnachten – eine optimale Situation, um einen Vormittag wartend und mit Schmerzen zu vertun. Als sie dann endlich auf dem Stuhl saß, war ihre immerwährende Angst vorm Zahnarzt dem dringenden Wunsch gewichen, einfach die nervigen Schmerzen loszuwerden, egal, was er mit ihr anstellen würde.

      Eine kleine Erleichterung kam, als die Spritze anfing zu wirken. Das Ziehen war dann nicht so schmerzfrei, wie sie sich das gewünscht hätte. „Bei Entzündungen tut‘s immer etwas weh.“, meinte der Arzt lapidar.

      Irene fragte sich, ob die Spritze überhaupt wirkte, als ein dunkler Schmerz ihr bis in den Kopf hinauf schoss. Es waren mehrere Versuche nötig, den Zahn komplett aus dem Zahnfleisch und dem Kiefer zu lösen, und auch danach war der Arzt sich nicht sicher, ob er alle Einzelteile erwischt hatte. Er legte einen Streifen entzündungshemmendes Material in die Lücke, verschrieb ihr ein schmerzstillendes Mittel und wollte sie am Weihnachtstag vor zwölf noch einmal sehen.

      „Nach den Feiertagen müssen Sie dann zu meinem Kollegen in Mutterstadt gehen, um den Streifen erneuern zu lassen. Er hat samstags für Notfälle von zehn bis zwölf geöffnet.“

      Sie fuhr zuerst in die nächste Apotheke, um sich das verschriebene Schmerzmittel zu besorgen.

      Ihre Lippe war noch geschwollen, sie hatte ein pelziges Gefühl im Mund und war noch leicht benommen von der Spritze, als sie im Büro ankam. Es war kurz vor zwölf und Meinert lief Amok. „Hätte dieser Arztbesuch nicht warten können bis nach den Feiertagen? Es ist eine Frechheit, mich hier hängen zu lassen,