Bewegung, das ist allgemein bekannt, tut dem gesamten Körper gut. Der Seele und dem Geist nicht minder. Ich merke, dass ich mich nach einem Spaziergang besser konzentrieren kann. Unter anderem. Liegt es am Sauerstoff? An der Bewegung selbst? An der unverbauten Natur, die mir Raum gibt, meinen Blick schweifen zu lassen? Oder daran, dass sie all meine Sinne mit ihren gleichermaßen wundervollen wie vielfältigen Erscheinungsformen von Flora und Fauna beschenkt?
Wie es Valtteri wohl geht? Und Anneline? Und Tarja?
Ich weiß, dass ich ihnen schon längst wieder hätte schreiben sollen. Ihnen allen. Es ging nicht. Bisher war ich einfach noch nicht wieder so weit.
Auf dem Heimweg komme ich an einem umzäunten Gartengrundstück vorbei. Drei Kinder, offensichtlich Geschwister, toben ungehemmt darin herum. Eines dieser runden Mini-Trampoline, die in jedes Wohnzimmer passen, steht neben einem großen runden Schwimmbassin und wird abwechselnd in Beschlag genommen.
Solange eines der drei Kinder auf dem Trampolin springt, tollen die anderen beiden im Wasser herum. Das hält nicht lange vor. Immer nur ein paar Minuten, dann wechseln sie reihum.
Ja, Bewegung tut gut. Kindern ist das vollkommen klar. Wenngleich auch nicht immer bewusst. Vortrefflich, dass sie einen Garten haben. Wie gut, dass neben bunten Blumenbeeten noch genug Platz für ein kleines Trampolin und ein großes Bassin vorhanden ist. Fabelhaft, dass sie ganz und gar ungetrübt spielen und herumalbern.
Freude zu haben, ist so wichtig.
Im Gegensatz zu diesem Miniparadies aus Lebensraum und Lebensfreude sind die zahlreichen Steingärten, an denen ich innerhalb der nächsten Viertelstunde vorbeikomme, regelrecht freudlos.
Lieblos. Freudlos. Leblos.
Angesichts dieses offenkundigen Kontrastes mutet die abgestumpfte Teilnahmslosigkeit der Passanten, gleich welchen Alters, fast schon gruselig an: Keiner der Vorbeilaufenden hält inne. Keinem geht das Herz auf. Keiner lächelt.
Niemand schaut hin. Es ist, als hätten die Steingärten mit all ihren Eigenschaften bereits Einzug in die Herzen vieler Menschen gehalten. Wie innen, so außen, sagt eine Redensart. In der Regel mache ich es mir nicht so einfach. In diesem ausnehmenden Fall allerdings, liegt vielleicht doch ein Körnchen Wahrheit darin.
Schriebe ich Valtteri davon, – ich weiß, er würde mich verstehen. Durch und durch.
Mir tritt der Vorspann zur Peter-Lustig-Sendereihe vor mein geistiges Auge. Zuerst ist es nur ein kleiner grüner Halm. Er sprengt den Asphalt und entfaltet seine Blätter. Letztendlich gelangt das Gewächs zu voller Blüte und wird zu einem leuchtend gelben Farbtupfer im omnipräsenten Grau einer ganz und gar betonierten Gegend. Ein fröhlicher Zuruf von Mutter Natur, die der Selbstüberschätzung gnadenloser Menschen frohgemut den Spiegel vorhält. Immer bereit zur Versöhnung. Immer bereit zur friedlichen Symbiose. Sofern man ihr nur aufrichtig entgegen kommt.
Kaum jemand trägt eine Atemmaske. Ich trage eine und stelle fest, dass mich diesbezüglich ab und zu ein missmutiger oder gar feindseliger Blick streift. Sonderbar. Bei jedem dieser Blicke überkommt mich ein Unbehagen. Ich bin irritiert, verstehe diese Blicke nicht. Weder kenne ich diese Menschen noch kennen sie mich. Ich weiß nicht um ihre jeweilige Job- und Lebenssituation oder ihre etwaigen Vorerkrankungen. Sie nicht um die meinen. Keineswegs habe ich ihnen abverlangt, es mir gleich zu tun. Mitnichten habe ich sie aufgefordert, einen Nasen-Mundschutz zu tragen. Der offiziellen Empfehlung, genau dann eine solche Maske aufzusetzen, wenn man in dichter besiedelten Bereichen oder nahe diversen Ansammlungen von Menschen unterwegs ist, liegt eine gewisse Kausalität zu Grunde. Das ist alles.
Mir kommen zurückliegende Gespräche mit Allergikern in Erinnerung. Manche von ihnen blieben an der Weide stehen, als ich noch dort arbeitete. Viele fluchten über ihre Erfahrungen mit herum schwirrenden Gräsern, Pollen, Haaren unterschiedlicher Tiergattungen oder Hausstaub. Andere waren einfach nur traurig. Sie bedauerten, nicht so zu können, wie sie wollten. Beinahe untröstlich war ein zwölfjähriges Mädchen, das sich den heiß ersehnten Reitunterricht schon seit mehreren Jahren versagen musste. Nicht aus finanziellen Gründen. Sie war allergisch gegen Pferdehaare. Und gegen Heu. Und gegen Stroh. Und gegen… Kurzum: Quasi gegen alles, was man vorfindet, so man sich denn mit Pferden umgibt. Wie das Mädchen mir bereitwillig erklärte, setzte sie ihre ganze Hoffnung auf eine sogenannte Immuntherapie. Wie es diesem Mädchen heute geht, weiß ich nicht. Seit jener Begegnung habe ich sie nicht wiedergesehen. Möglicherweise weil die Therapie angeschlagen hat und sie mittlerweile jede freie Minute im Reitstall verbringt? Das wäre kolossal.
Alles in allem waren die Gespräche mit Allergikern sehr aufschlussreich. Ist man selber von keiner Allergie betroffen, kommt man zunächst nicht darauf, wo überall Reizstoffe unterwegs sein oder sich absetzen können. Viren sind kleiner als Pollen. Und flexibler.
Außerdem macht derzeit ein Gerücht hinsichtlich eventueller Bußgelder die Runde. Sollte auch nur im Entferntesten etwas daran sein, – ich habe kaum Reserven für finanzielle Schnitzer.
Es mutet an, als sei der Mund-Nasenschutz für einige Menschen zum roten Tuch geworden. Und als sei es jeden Tag auf’s Neue schwer einzuschätzen, von welcher Seite der Stier denn heute nun wieder herandonnert. Weder kann man ihn sich nähern hören noch Vibrationen im Boden spüren. Er taucht überraschend auf, dieser Stier. Mal aus dieser, mal aus jener Richtung. Fast kommt es mir so vor, als stünde ich mitten in der Arena. Ohne allerdings zu wissen, wie ich dorthin gelangt bin.
Entschuldigen Sie, wo ist bitte der Ausgang? Hier liegt nämlich ein Irrtum vor. Ich bin kein Torero. Ich war nie einer und möchte auch niemals einer werden. Ich mag keine Stierkämpfe. Im Gegenteil. Ich finde sie total bescheuert. Der arme Stier.
Nichts davon spreche ich laut aus. Stattdessen warte ich lieber still, bis sämtliche der missmutigen Passanten vorüber gezogen sind. Und noch ein paar Minuten länger. Nur so, zur Sicherheit. Erst dann mache ich mich wieder auf den Weg.
„Dub-dub-dubidu. Badaba-dub-dub-dubidu. … Löwenzahn“, singe ich dabei leise vor mich hin. Singen hilft.
Nachdem der Fußweg entlang der Steingärten verstrichen ist, erblicke ich zwei prall gefüllte Blumenkästen vor einem ebenerdigen Küchenfenster. Erfreut bleibe ich stehen und schaue aus gebührendem Abstand genauer hin. Aaahhhh… Wie das duftet. Wer auch immer da seinen privaten Lebensraum anhand dieser zwei Blumenkästen verschönert, macht seine Sache wirklich gut. Den Pflanzen geht es prächtig. Ein üppiger Rosmarinstrauch wächst in dem einen Blumenkasten, Pfefferminze in dem anderen.
Nicht nur ich werde von diesem Anblick und den Gerüchen angezogen, sondern auch allerlei Getier. Schmetterlinge, Bienen, Marienkäfer, Hummeln und… Wespen. Wespen treten in diesem Jahr wirklich außerordentlich zahlreich und aggressiv auf. Zehn solcher Plagegeister sitzen im Rosmarin. In der Pfefferminze hingegen nur vier. Eine von ihnen hat sich gerade einen Falter geschnappt und beginnt, ihn bei lebendigen Leibe aufzufressen. Seufz. Ja, auch das ist Natur.
Während ich dort so vor mich hin sinniere, öffnet eine ältere Dame ihr Küchenfenster. Sofort strömt mir der Duft warmer Krapfen entgegen. Meine Atemmaske vermag ihn nicht aufzuhalten. Was ich durchaus begrüße.
Vorsichtig legt die Frau sechs Zitronenschalen zwischen die Äste des Rosmarins und der Pfefferminze. Ehe sie das Fenster wieder schließt, steckt sie noch getrocknete Nelken hinein. Jetzt bin ich aber gespannt.
Tatsächlich.
Innerhalb einer Minute ergreifen sieben Wespen die Flucht.
„Faszinierend“, murmele ich unter meiner Atemmaske, sende Mr. Spock im Stillen einen Gruß und setze meinen Weg fort.
*
Zuhause sitze ich an meinem Schreibtisch, bis ich müde werde. Schlafen kann ich anschließend trotzdem noch nicht.