„Mmm?“
„Was genau ist bitte ein gutes Leben?“
„Oha. Jetzt wird’s philosophisch.“
„Eben! Da gibt es doch tausende Definitionen. Tausende Antworten. Diese Frage gibt es doch schon seit der Antike.“
„Ach, vielleicht gab es diese Frage sogar noch früher, wer weiß. Vielleicht ist sie damals nur nicht dokumentiert worden. Oder die Dokumentationen sind nicht erhalten geblieben. Oder noch nicht gefunden worden. Was weiß man schon wirklich über die Geschichte der Menschheit? Alle paar Jahre kommen neue Erkenntnisse und Thesen hinzu. Oder neue Entdeckungen werfen weitere Fragen auf. Der Mensch hat doch während seiner eigenen Lebensphase sowieso immer nur ein Guckloch auf das große Ganze.“
„Jetzt wirst du philosophisch.“
„Ja. Wieso auch nicht? Nach deiner Eröffnung.“
„Touché. Na gut, dann also: Was ist ein gutes Leben?“
„Das kommt ganz auf den Blickwinkel des Betrachters an.“
Ein Krachen im Hintergrund. Dicht gefolgt von Sebastians weinendem Aufschrei.
„Och nööö. Wart’ mal eben, Lenja. Ich leg’ dich mal kurz zur Seite.“
Rauschen. Sich entfernende Schritte. Sebastians weinendes Schreien kippt in ein wimmerndes Schluchzen. Weitere Schritte. Falks Stimme mischt sich unter das Gewirr. Nahende Schritte.
„Ich muss Schluss machen, Lenja. Sebastian hatte seinen frisch gebauten Kran auf das Sofa gestellt, weil er mit dem Greifarm das Spielzeug vom Boden aufsammeln wollte. Er war so in sein Spiel vertieft, dass er den Wohnzimmertisch vergessen hat. Da ist er grad mit dem Rücken gegen gerummst. Ich melde mich.“
„O.k. Gute Besserung.“
„Danke.“
Klack.
Was ist ein gutes Leben?
Reichtum? Wohlstand? Erfolg? Materielles? Mobilität? Optik? Gesundheit? Liebe? Verbundenheit? Freunde? Partnerschaft? Freizügigkeit? Keuschheit? Veränderung? Beständigkeit? Enge? Freiheit? Ruhe? Geräusche? Dunkelheit? Helligkeit? Sonne? Regen? Wind? Wärme? Kälte? Eremitentum? Geselligkeit? Fülle? Askese? Monokultur? Vielfalt? Nahrung? Trockenheit? Wasser?
Und was ist, wenn das eine das andere bedingt? Wie verhält es sich dann mit der Empfindung um ein gutes Leben?
Was ist, wenn man reich genug ist, sämtliche Möglichkeiten zur Genesung und Erhaltung der Gesundheit finanzieren zu können, diese jedoch nicht in Reichweite sind?
Was ist, wenn man eben diese Möglichkeiten zwar in Reichweite hat, sie jedoch kaum oder überhaupt nicht finanzieren kann und aus diesem Grund in einer schlechteren Verfassung ist, als man eigentlich sein müsste?
Was beinhaltet in einem solchen Fall die Auffassung von einem guten Leben?
Über den Tellerrand hinaus geschaut: Was ist, wenn man seine Lebensspanne nicht in Gestalt eines Menschen – wovon in der Regel ausgegangen wird und ergründende Gedanken somit per se relativ eng sind – sondern der eines Tieres verbringt? Zum Beispiel als eines, das in seinem Bewegungsraum und seiner Versorgung vollkommen abhängig von seinem Halter ist? Oder als eines, das weder Mähmaschinen noch Feuersbrünste kennt und in seiner Rettung arglos auf andere angewiesen ist?
Was ist dann ein gutes Leben?
Könnte es sinnvoll sein, mich postwendend an meinen Schreibtisch zu begeben um eine zwölfbändige Enzyklopädie über dieses Thema zu beginnen? Unterteilt in sämtliche der Menschheit bekannten Epochen, Regionen und Lebensformen? Geprägt vom jeweils kursierenden Rollen- und Weltbild? Dem Zeitgeist sowie auch politischen und religiösen Einflüssen und Strömungen? Bis hin zu Gesellschaftsschichten? Welche logischerweise im Kontext von Einkommen, Alltag, Gesundheit und Lebensumständen zu betrachten wären?
Nein. Eine solche Enzyklopädie ergäbe keinen Sinn. Letztendlich würde jedes Kapitel mit demselben Fazit schließen: Leben ist – neben vielen anderen Faktoren – an die Auffassung von Glück geknüpft.
Die Auffassung von Glück wiederum
war,
ist
und wird
individuell definiert.
*
„Können Sie auch einen Einhornkuchen backen?“
„Na klar. Bestimmt.“
„Ah, gut. Mein Enkelkind hat nämlich Geburtstag. Es wäre der erste Geburtstag gewesen, den sie im Kindergarten gefeiert hätte. Mit ihren ganzen neuen Freunden. Aber durch die Pandemie-Auflagen und dieses ständige Hin und Her, ob die Kindergärten und Schulen nun geöffnet sind oder nicht… Ach, man kennt sich ja gar nimmer aus. Und sie hatte sich doch so gefreut. Ach, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Aber mit all ihren Freunden im Kindergarten zu feiern, das geht im Moment nun einmal nicht. Da musste ich sie schon sehr trösten. Am Telefon. Und über Video. Das hat meine Tochter mir gezeigt. Wie das geht und so. Und da rufen wir uns jetzt immer gegenseitig mit Video an. Ja, und dann stellt meine Tochter ihr Handy auf die Nachttischkommode und meine Enkel können sich dann davor setzen und wir sprechen dann zusammen. Alle miteinander oder durcheinander, ach, immer so wie’s auskommt. Oder wer mag oder keine Zeit hat, der kann auch zwischendurch mal rausgehen. Und die anderen sprechen dann weiter. Meistens ist es ja so, dass meine Enkel nach ihrer Oma fragen. Und da lasse ich mich natürlich nicht lange bitten, das ist klar. Wozu bin ich sonst Oma? Und ja, und dann höre ich zu und wir sprechen so dies und das und ich mache, was immer mir möglich ist. Ach, das ist manchmal ganz herzig, was meinen Enkeln dann so zwischendrin einfällt. Es ist noch gar nicht so lange her, da wollten sie, dass ich denen etwas vorlese. Ja, um Himmels Willen, das Buch kannte ich gar nicht! Das hatte ich auch nicht da! Ja, du liebe Güte, da hatte ich eine Not. Und dann die traurigen Augen. Das können Sie sich gar nicht vorstellen. Ach, das war eine Stimmung, – nein. Mein Schwiegersohn hat dann das Buch im Internet bestellt und was soll ich Ihnen sagen? Am nächsten Tag war es bei mir! So schnell! Und dann gab es die Vorleserunde doch! So eine Freude! Da saßen meine beiden Enkel dann vor diesem kleinen Bildschirm und haben ganz andächtig zugehört. Vor dem Mittagsschlaf. Am Anfang haben sie noch zu mir hin geguckt, aber dann wurden die Augen immer müder. Ach, und da waren sie dann auch bald eingeschlafen. Oder was bei meinen Enkeln dann manchmal so ganz plötzlich raus geplappert kommt! Ich sage Ihnen, da gerate ich bisweilen regelrecht ins Staunen. Mein Schwiegersohn sagte das auch schon. Und dass er und seine Frau, also meine Tochter, das ja sonst gar nicht so mitkriegen. In dem ganzen Umfang. Weil der Große ja schon in der Grundschule ist und die Kleine im Kindergarten. Und meine Tochter und mein Schwiegersohn ja auf der Arbeit. Also vor dem Lockdown. Ja, und jetzt findet die Kinderbetreuung schon seit März zu Hause statt und da haben die Eltern ja keine Sekunde Ruhe. Oder mal einen Augenblick für sich. Es ist ja nicht nur die Kleine, um die sich gekümmert werden muss. Der Große ist ja auch noch da. Homeschooling! Ach, eine Katastrophe sage ich Ihnen…“
„Hmja. Der Einhornkuchen ist aber für die Kleine, wenn ich Sie recht verstehe?“
„Ja genau. Ich sag’ zu meiner Tochter und meinem Schwiegersohn ‚Ich backe ihr einen schönen Mamorkuchen.‘, sage ich. Ach, um Gottes Willen! ‚Nein‘, sagen beide. ‚Das ist total lieb von dir, Mutti‘, sagen sie, ‚aber sie wünscht sich so sehr einen Einhornkuchen.‘“
„Und diesen Wunsch möchten Sie als Oma Ihrem Enkelkind nun gerne erfüllen?“
„Ja natürlich! Die beiden kommen doch gar nicht dazu. Die haben ja nicht eine Minute für sich. Als wenn die noch heimlich etwas backen könnten. Nein nein, das ist nicht drin. Da muss die Oma ran. Tja, und jetzt? Ich habe doch noch nie einen Einhornkuchen gebacken. Ich weiß gar nicht, wie so etwas aussieht. Und wie das geht. So ein Einhornkuchen. Und als ich da Ihren Zettel im Supermarkt gesehen habe, der hing ja da an der Pinnwand, da dachte ich: Ruf doch mal da an. Vielleicht kann die dir ja weiterhelfen. Ich habe auch schon in den Bäckereien angerufen, – in Ödenpofen