„Hm! Wenn ich mir das jetzt so angucke: schon möglich, dass die hier rauf gekommen sind. Aber mit Königin im Gepäck wieder runter? Das glaube ich nicht. Wie soll das gegangen sein. Schaut euch dieses Geländer an. Es ist leicht bemoost. Wenn die hier die Königin abgeseilt hätten, dann müsste man Schleifspuren des Seiles erkennen können, aber hier ist nichts.“
Sinja kratzte ein wenig auf dem verwitterten Handlauf des Geländers herum und hatte im Nu die weiße Farbe freigelegt, in der das Geländer ursprünglich gestrichen war. „Genau diese Farbe müsste man sehen, wenn hier eine Last mit einem Seil heruntergelassen worden wäre. Nichts! Die Seilnummer können wir streichen. Es muss anders vonstattengegangen sein, aber wie? Lass mal sehen. Hat schon jemand das Zimmer untersucht?“
„Nun, wir haben überall nachgesehen!“, antwortete Menroy, „allerdings natürlich in erster Linie auf der Suche nach der Königin. Wir sind ja nicht von Anfang an von einer Entführung ausgegangen.“
„Waren bei der Untersuchung Frauen oder Mädchen dabei?“
„Warum? Nein! Es waren ausschließlich Männer! Was soll die Frage?“
„Ganz einfach“, antwortete Sinja, „Frauen und Mädchen schauen sich ein Mädchenzimmer anders an. Nehmen wir zum Beispiel mal diese wunderschöne, barocke Schminkkommode hier. Ich wette, keiner der Männer hat sich die Mühe gemacht, diesen Aufbau hier mal aufzuklappen. Wahrscheinlich wussten sie nicht einmal, dass das überhaupt möglich ist.“
„Da könnte das Fräulein Sinja sogar rechthaben!“ Menroy wurde kleinlaut. Es war ihm peinlich, eine so offensichtliche Sache nicht bemerkt zu haben.
„Sehen sie! Deswegen habe ich gefragt! Wenn Königin Myriana in ihrem Ankleidezimmer überfallen und entführt wurde, dann saß sie doch höchstwahrscheinlich dort, wo jede Frau während ihrer Morgentoilette sitzt: vor diesem Schminktisch. Ich gehe jede Wette ein, dass dieses Rosenbild hier nicht nur ein schönes Bild ist, sondern einen ganz praktischen Zweck hat, nämlich den dahinterliegenden Spiegel zu schützen. Und wenn sich das alles so abgespielt hat, wie ich es vermute, dann war der Schminktisch mit dem Spiegel der letzte Ort, an dem die Königin sich vor ihrer Entführung befand. Schauen wir uns das Ding doch mal näher an!“
Sinja ging zu der Schminkkommode und klappte die rechte Hälfte des Rosenbildes zur Seite. Dahinter erschien eine Seite eines Spiegels auf der einige rote Striche zu sehen waren. „Was ist das?“
Mit spitzen Fingern, um keine Spuren zu verwischen, öffnete sie auch den linken Flügel des Rosenbildes. Die zweite Seite des Spiegels tauchte auf. Weitere Linien wurden sichtbar, Buchstaben, Zeichen.
„Oh, Sinja, sieht aus, als hättest du recht!“, rief Emelda, die bis dahin stumm zugesehen hatte. Mit kirschrotem Lippenstift war in schneller, zittriger Schrift etwas auf das Spiegelglas geschrieben worden: MWA ZF b. „Was bedeutet das?“
„Sie wollte uns wohl einen Hinweis hinterlassen. Mehr hat sie nicht geschafft. Dann musste sie das Ding wohl zuklappen, weil die Entführer im Raum standen.“
„Ja, schon. Aber was will sie uns mit diesen Zeichen sagen? Es sieht aus, wie ein Code. ZF, Zimmer mit Frühstück? Kategorie b?“ Emelda war ratlos. Auch Zabruda Menroy stand mit fragendem Blick neben dem Frisierspiegel. Sinja dachte nach.
„Hm! So, wie das dasteht, macht es natürlich nicht allzu viel Sinn. Es erinnert mich aber an eine Signatur, ähnlich denen, die in Bibliotheken benutzt werden, um die Bücher zu sortieren.“
Wieder überlegte Sinja einen Moment.
„Mister Menroy“, sagte sie dann, „Fasolanda ist doch berühmt für seine Bibliotheken. Meinen sie, dass es möglich ist, einen Blick in eine davon zu werfen, sagen wir, zum Beispiel, die Musikbibliothek?“
„Nun“, antwortete Menroy bedächtig, „normalerweise ist das Betreten der musikalischen Bibliothek nur mit einem Leserausweis gestattet. Der muss beantragt und genehmigt werden, da die Besucherzahl begrenzt werden soll, um die Bücher zu schützen. Das ist ein langwieriges Verfahren und….“
„Das regeln sie doch für mich, Mister Menroy, oder etwa nicht?“, unterbrach Sinja die ausweichende Erklärung und blinzelte den Kammerdiener mit dem unschuldigsten Blick an, den sie in diesem Moment hinbekam.
„Ich will sehen, was sich machen lässt“, antwortete Menroy. „Vielleicht kann ich eine Ausnahmegenehmigung erwirken.“
„Ich wusste, dass sie das hinkriegen“, jubelte Sinja und zwinkerte Emelda zu.
Menroy läutete eine silberne Glocke, die auf einer Anrichte in der Nähe der Tür gestanden hatte. Ein Diener betrat wenige Augenblicke später die Kammer und fragte nach Mister Menroys Begehr. Dieser flüsterte ihm einige Anweisungen zu. Der Diener nickte sparsam, verbeugte sich knapp und verließ den Raum.
34 Eala Cuin
„Ich kann es fühlen!“, krächzte die alte Frau, so laut sie es eben noch konnte in den dunklen Wald hinaus. „Es spricht wieder!“
„Aaach! Was du wieder fühlst“, schnarrte eine, mindestens ebenso alte, männliche Stimme. Sie kam von hinter dem, was sie `das Haus´ nannten. Die Elfen hatten hier einst gesiedelt und den Ort Minning Gaddan genannt. Das Haus, in dem sie sich getroffen hatten, wenn es etwas zu besprechen oder zu feiern gab, hieß Eala Cuin, was in der alten Sprache der Elfen, etwa so viel bedeutete wie lebendiges Wesen und das war keineswegs übertrieben. Es sah zwar einem Haus ähnlich, doch es war vielmehr als das, es war ein Organismus. Dieser Organismus sah seinen Vorteil darin, sich den Elfen als Behausung zur Verfügung zu stellen und die hatten sich in ihm eingerichtet. Sie pflegten und versorgten ihn dafür und so war beiden gedient. Eala Cuin hatte auf einer hellen Lichtung gestanden, doch das war sehr, sehr lange her. Die Elfen waren vertrieben worden von den Horden aus Morendo. Da die Moroks kein Interesse an der Siedlung gehabt hatten, war sie verfallen. Der Wald hatte sich seinen Platz zurückerobert und Eala Cuin war, wie fast das ganze Minning Gaddan, längst wieder Teil des Waldes geworden. Es sah aus wie ein großer, bewachsener Erdhügel mit einigen merkwürdigen Öffnungen und Wölbungen. Seine Wände waren über und über mit Moos bedeckt. Niedriges Buschwerk umstand den Hügel von allen Seiten. Eine Veranda war noch in Umrissen zu erkennen, deren Pfosten von Schlingpflanzen überwuchert waren. Diese hatten auch die Fensterbänke in Beschlag genommen und den Schornstein ebenfalls schon gefährlich umarmt. Der hatte dadurch zwar einiges von seinem Mauerwerk eingebüßt, gab aber trotzdem unablässig dünne Rauchfäden von sich. So sah und roch man selbst aus einiger Entfernung, dass Eala Cuin wieder bewohnt war.
„Ich sage dir, es hat sich bewegt!“
„Ja doch!“
Die alte Frau hatte an einem Platz gesessen, der von der ehemaligen Veranda übriggeblieben und noch nicht vollständig zugewachsen war. Sie erhob sich jetzt mühsam aus einem Schaukelstuhl, der so verwittert und alt aussah wie seine Besitzerin. Sie sortierte umständlich einige ihrer grauen Haarsträhnen, stieg über Blätter und Äste, ging mit schleppenden Schritten zu einem der Pfosten, die das Vordach stützten und legte behutsam ihre knöcherne Hand auf die Ranken.
„Komm rüber, wenn du mir nicht glaubst. Fühl es selbst!“
„Ja! Im Grunde ist es ja auch an der Zeit“, antwortete der alte Mann mürrisch. „Eigentlich habe ich schon früher damit gerechnet. Ich glaube,