Wozu tu ich mir das hier an?, fragte Nina sich, ich könnte Becky zu Oma bringen, Oma klagt das Sorgerecht für sie ein, und den Alten, den lassen wir hier vergammeln. Dann bereite ich mich in aller Ruhe auf die Zusammenführung mit diesem Basti an Gründonnerstag vor, die Christina so schön vorbildlich ohne mein Wissen arrangiert hat. Vielleicht ist er der Junge, auf den ich warte. Wahrscheinlich ist er es nicht, aber dann habe ich es wenigstens versucht.
Nina brachte den Staubsauger zurück in die Kammer, holte sich dort einen Eimer, füllte ihn mit Wasser und Spüli und begann mit Staubwischen.
8.
Renate hatte sich in ein Frauenhaus geflüchtet. Hatte Michael sie in den letzten Jahren vermehrt geschlagen, wenn er getrunken hatte, fühlte sie sich seit der Attacke vom Geburtstag des Bürgermeisters in dauernder Gefahr.
„Wie hatte es soweit kommen können?“, hatte die Sozialpädagogin im Edith-Stein-Heim gefragt, an dem Tag, an dem sie die streng geheime Adresse aufgesucht hatte.
„Das Ziel unserer Einrichtung ist nicht der dauerhafte Aufenthalt. Sie müssen sich den Problemen stellen. Das heißt, dass Sie sich Ihrer Vergangenheit stellen müssen.“
Den ganzen Tag ging es ihr im Kopf herum. Das Gespräch hatte Renate desillusioniert.
„Ich pflege einen familientherapeutischen Ansatz, Renate. Du kommst um ein Gespräch mit deinem Ehemann nicht herum. Früher oder später wirst du dieser Konfrontation nicht aus dem Weg gehen können. Und auch die Töchter werden in diese Gesprächstherapie mit einbezogen werden müssen. Wo sind deine Töchter?“
Renate hatte auf diese Frage zwar gewartet, aber keine Antwort parat. Schuldbewusst blickte sie unter sich, als das Gespräch auf dieses heikle Thema kam.
Wie konnte sie ihre acht und sechzehn Jahre alten Töchter mit diesem Scheusal alleine lassen? Ihr war klar, oder besser, hätte klar sein müssen, dass es für eine Sozialpädagogin mit der langen Erfahrung einer Margarethe Baltes kaum nachvollziehbar sein dürfte, dass Renate Nina und Rebecca im Haus der Familie zurückgelassen hatten.
Renate war davon überzeugt, dass die beiden dort sicher waren. Michael würde seinen Töchtern nie etwas antun. Das hatte er nie getan, und das würde er nie tun. Wie er mit ihr umsprang, war das Eine, wie er mit seinen Töchtern umging, war das Andere. Da war er ein liebevoller Vater, der für die Anliegen seiner Töchter ein offenes Ohr hatte. Und sogar dann, wenn er komplett den Überblick verlor, hatte er noch nie die Mädchen im Visier gehabt! Er tadelte sie höchstens in seinen lichten Momenten, und die waren seltener geworden.
Es war eher Michael, der die Hilfe seiner Töchter beanspruchen würde. Noch nicht jetzt, das wusste sie, doch sie wusste genau, dass dieser Zeitpunkt irgendwann kommen würde. Und wenn Michael diese Hilfe dann nicht bekäme, entweder weil die Töchter nicht mehr in Altweiler wohnten oder der Kontakt abriss, dann wäre Michael alleine.
Wenn sie darüber nachdachte, dann überkam sie das Mitleid mit einem Menschen, den sie einmal geliebt hatte wie sie noch niemals zuvor und niemals danach einen Menschen geliebt hatte oder würde lieben können.
Doch wusste sie auf der anderen Seite genau, von wem er keinerlei Hilfe mehr erwarten konnte. Von ihr.
Würde diese Sozialpädagogin sie verstehen? Wie soll diese vertrocknete Zwetschge etwas davon verstehen, dachte Renate, sie hat doch nicht die geringste Lebenserfahrung. Doch im nächsten Augenblick tadelte sie sich dafür, dass sie solche Gedanken hegte in Bezug auf eine Frau, die ihr doch helfen sollte. Kooperiere, dann bist du früher hier draußen, flüsterte ihre innere Stimme ihr zu.
Renate saß da, ganz verschüchtert. Eine Frau von Mitte 40, zierlich, doch gut aussehend, ihr schwarzes Haar noch kaum ergraut.
Das Gespräch mit Margarethe war anstrengend gewesen, doch wie beide Frauen zuvor schon geahnt hatten, endete es zunächst ohne Ergebnis.
„Ich bin durchaus in Sorge um Nina und Rebecca“, sagte Margarethe Baltes nun, „doch ich hoffe, dass es stimmt, was du sagst und dein Mann deinen Töchtern nichts antun wird. Ich habe schon anderes erlebt.“
„Ich kann es mir vorstellen. So etwas wie Familiendramen meinst du, oder?“
„Die Presse nennt es verniedlichend Familiendrama, wenn ein Mann seine Familie ermordet, aber ist dieser Begriff berechtigt? Kann man etwas ein Drama nennen, in dem es nur einen Protagonisten gibt und die anderen Beteiligten nicht einmal Statisten sind? Unbeteiligte, deren Leben beendet wird von einer Person, der sie vertraut haben?“
Renate nickte.
„Hast du mit deinen Kolleginnen darüber gesprochen?“
„Mit meinen Kolleginnen? - Bei Aldi??“ antwortete Renate halb entrüstet, halb belustigt, „das soll wohl ein Witz sein, oder?“
„Wieso?“
„Du kannst im Kollegenkreis bei Aldi über deine privaten Probleme reden. Du kannst aber auch ein Plakat aufhängen, am Parkplatz gegenüber, dann hast du den gleichen Effekt. Weißt du, wie hoch die Frauenquote bei Aldi ist?“
„Hast du im privaten Umfeld mit jemandem gesprochen?“
„Meine Mutter ist siebzig. Wir waren zuhause streng katholisch, mein Vater ist tot. Seit zwei Jahren. Er ist an Krebs gestorben.“
Renate rannen Tränen über das Gesicht.
„Ich kann es ihr nicht sagen. Ich will ihr nicht das Herz brechen.“
Renate nahm ein Taschentuch und schnäuzte hinein.
„Ich habe Sabine davon erzählt.“
„Wer ist Sabine?“
„Meine Freundin“, entgegnete Renate, „wir saßen seit der ersten Klasse zusammen in der gleichen Bank“, sagte Renate, „weißt du, am Anfang saßen alle Klassen der Grundschule in dem gleichen Raum. Hundert Leute. Gelernt hat man da nix.“
„Was sagt deine Freundin dazu?“
„Sabine hat mich schon 1975 vor Michael gewarnt“, resümierte Renate, „aber ich habe nicht hören wollen.“
Fürs Erste wies man ihr ein Zimmer zu und der Tag war für Renate gerettet.
9.
Endlich Gründonnerstag!
Bereits beim Klingeln des Weckers schlug Ninas Herz in schnellem Takt. Der Tag der Wahrheit!
Sie wusste, dass es irgendwann soweit sein würde, und dass Christina es sich nicht mehr länger nehmen lassen würde, sie mit einem Jungen zu verkuppeln.
Reiß dich am Riemen, dachte Nina, du stehst in der Verantwortung. Christina weiß, was gut für dich ist.
Einerseits hatte sie es bei Christina mit einem sechzehnjährigen Mädchen zu tun, das kaum Lebenserfahrung hatte und dessen Freund vielleicht gewalttätig war.
Andererseits könnte es auch sein, dass Nina selbst paranoid war, vermutete sie. Sie forderte sich auf, Christina eine Chance zu geben.
Sie war mit Herzklopfen aufgewacht, und nun stellte sie mit Bedauern fest, dass sich ihr Vater zur gleichen Zeit wie sie in der Küche aufhielt, weil er heute zur Frühschicht eingeteilt war. Ausgerechnet heute.
Nina nahm sich Milch aus dem Kühlschrank. Ein Brummen hinter ihr.
Michael nuschelte irgendwas.
„Hast du was gesagt, Papa?“
„Musst du nicht zur Schule?“
„Ich bin schon unterwegs.“
Sie war dabei, die Nutellabrote für Rebecca fertig zu machen.
„Kochst du uns etwas heute Mittag?“, fragte sie ihren Vater, in der Hoffnung, er