„Schieß los!“
Der Mann am anderen Ende der Leitung wirkte jetzt zunehmend gereizt und lustlos.
„Ist es wegen dem Sommerhaus am Sportplatz? Ich bin jederzeit bereit, es abreißen zu lassen. Hätte nur mal einer von euch mit mir darüber gesprochen …“
„Hinterher kann man das immer schön sagen.“
Eine Pause entstand, dann fuhr Günther Schmidt fort: „Erst die Fraktion gegeneinander ausspielen wegen dieses Sommerhauses, und dann sagen, ich reiße es ab. Nein danke, Doppelagenten können wir im Wahlkampf nicht gebrauchen.“
Ohne jeden weiteren Gruß legte der Pressechef des Gemeindeverbandes auf.
Erwin, der weiter zitterte, ging langsam zum Küchentisch und setzte sich auf seinen Stuhl.
Der Mann mit der Säge, dachte Erwin, so nennt man ihn, den guten Martin Wolf. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet ich einmal der Baum für ihn sein würde, ich, der ihn gefördert hat?
Hedi trug den großen Topf mit der Brühbohnensuppe stellte diesen auf den Untersetzer in der Mitte des Küchentischs. Dann ergriff sie Erwins Hand und streichelte darüber.
„Was ist denn, Mummelchen?“, fragte Hedi und versuchte mit ihrem Mädchentonfall, Erwin zu beruhigen. Erwin erlangte derweil seine Fassung langsam wieder.
„Ich hätte diesem Blödmann inzwischen vieles zugetraut, aber das nun nicht.“
„Was hat denn der Schmidt Günther angestellt?“
„Den meine ich gar nicht.“
„Von wem redest du denn dann? Du hast doch eben mit Günther Schmidt gesprochen.“
„Ja, ich habe mit Günther geredet. Aber ich meine den Bürgermeister. Er hat die gesamte Fraktion und den ganzen Gemeindeverband gegen mich aufgehetzt. Er erzählt überall herum, dass ich die Fraktion gegeneinander ausgespielt hätte wegen unseres Sommerhauses am Sportplatz.“
„Aber das wollten wir doch abreißen“, sagte Hedi.
Sie schüttelte den Kopf.
„Das wissen die ja nicht. Der Bürgermeister will jetzt offenbar den Antrag der Naturverbundenen Ökologen unterstützen, das Gelände als Naturschutzgebiet ausweisen und unser Häuschen abreißen. Davon würden wir sogar profitieren, weil wir es dann nicht selbst abreißen müssen und auch noch finanziell entschädigt werden. Aber statt mit mir darüber zu reden, geht er davon aus, dass ich ihn sabotieren will. Und jetzt hat er das allen als die Wahrheit aufgetischt. Jetzt sind sie alle gegen mich. Was sagst du dazu?“
„Nun“, sagte sie, während sie ihre beiden Teller mit der Suppe füllte, „das Beste wäre, wenn du dich jetzt zurückziehst. Diese Frechheiten musst du dir doch nicht gefallen lassen.“
„Bist du verrückt? Ich werde kämpfen. Jetzt erst recht.“
„Ach, Erwin“, seufzte Hedi, „du bist noch so stur wie eh und je. Du hast dich nicht verändert in all den Jahren, was das betrifft. Immer geht es dir nur ums Prinzip. Aber obwohl ich dagegen bin, unterstütze ich dich dabei. Versprich mir bitte bloß eins:“, sagte sie, und schaute ihm tief in die Augen.
„Pass auf dich auf, ja?“
Ihrem Blick ausweichend und ohne auf ihren Wunsch einzugehen, sagte er nur diesen einen Satz:
„Der Kampf ist eröffnet.“
Er ahnte nicht, dass er später einsehen würde, dass der Vorschlag seiner Frau nicht der schlechteste war.
7.
Nina stand auf der obersten Stufe der Treppe, die die untere Wohnung mit den Zimmern im ersten Stock verband, und versuchte, den Gerätkörper des Staubsaugers unfallfrei auf der Stufe zu halten, während sie die oberen Stufen absaugte und das Kabel, das sich dauernd verhedderte, an einer Steckdose im ersten Stock eingesteckt war. Schweiß trat an allen Stellen ihres Körpers aus.
Mein T-Shirt wird wohl ein Fall sein für die nächste Arbeit, die mir bevorsteht, dachte Nina, Waschen, Trocknen und Bügeln der Wäsche von drei Personen.
Es war Samstag, und es war genau eine Woche vergangen, seit ihr Vater den Ruf der Familie im Ort ruiniert hatte. Eine Woche, die katastrophal verlaufen war.
Nicht nur, dass sie in der Schule ständig Ärger mit den Lehrern bekam, weil sie sich im Unterricht nicht konzentrieren konnte und weil sie sich nicht zum Lernen aufraffen konnte, nein, sie schlief schlecht. Träumte wirres Zeug. Träumte, sie sei sitzen geblieben. Dabei war sie bis vor kurzem immer eine der besten Schülerinnen gewesen.
Erstmals musste sie sich durch den Schulalltag quälen, erstmals fühlte sie eine destruktive Leere, die sich den ganzen Tag über hinzog und nie aufzuhören schien. Erstmals gab es Tage, an denen sie ihre Hausaufgaben nicht mehr anfertigte, wenn sie zuhause war. Stattdessen fühlte sie sich depressiv. Wollte weg. Es häuften sich die Momente, in denen sie Babsi beneidete, ihre Schwester, die an ihrem sechzehnten Geburtstag auf Nimmerwiedersehen aus ihrem Elternhaus verschwunden war.
Wenn ich einen Freund hätte, dachte Nina, wäre es besser. Dann wüsste ich, wohin ich mich verkriechen könnte.
Der Staubsauger röhrte.
„Wann krieg’ ich endlich was zu essen?“ rief ihre Schwester am unteren Ende der Treppe und weinte.
„Vater ist mit Kochen dran“, schrie sie und hoffte, dass ihre Stimme laut genug war, um das Geräusch des Saugers zu übertönen.
„Wann kommt Mama wieder?“ schrie Rebecca zurück.
„Bald!“
„Wo ist sie eigentlich?“
„Sie ist in Kur“, rief Nina, ihre Stimme war schon heiser.
„Was ist eine Kur?“
„Erkläre ich dir gleich! Muss erst sauber machen!“
Nina fragte sich, wie es in Rebecca aussah. Die Kleine nahm das Fehlen der Mutter erstaunlich gelassen hin. Dabei war sie als Achtjährige in ihrer Entwicklung durch die schlechte Stimmung im Elternhaus doch mindestens so gefährdet wie Nina.
War Nina die Einzige, die sich um das Mädchen sorgte? Offenbar, denn ihre Mutter hatte sich nach der Blamage im Dorfgemeinschaftshaus in ein Frauenhaus geflüchtet und sich nur einmal von einer öffentlichen Telefonzelle aus gemeldet. Sie hatte Nina gesagt, sie solle sich keine Sorgen machen.
Keine Sorgen machen, dachte Nina, was denkt meine Mutter sich? Sie hat uns im Stich gelassen!
Ihr Vater hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich alleine im Wohnzimmer einzubunkern, wo er fern sah und sich betrank. Sie war heilfroh, dass Nackas Metallbau ihn noch nicht gefeuert hatte, denn dann würde er den ganzen Tag zuhause herumsitzen, und das wäre für Nina das Schlimmste, denn zuhause hatte sie mehr und mehr Angst, ihrem Vater zu begegnen. Obwohl er bis jetzt noch nicht ausfallend gegen Nina geworden war.
Wenn man an den Teufel denkt, dachte Nina, dann stolpert er doch tatsächlich zur Haustür hinein, als ob ich noch nicht genügend Probleme hätte.
Michael trug eine Flasche mit klarem Inhalt und einer aufgemalten gelben Birne auf dem Etikett in der Hand.
Beruhige dich, Nina, dachte sie, es ist nur Zitronenlimonade und du brauchst eine Brille.
Michael blieb vor der Treppe stehen, blickte sie an, gestikulierte und brummte etwas, das Nina durch das laute Brummen des Reinigungsgerätes nicht verstand. Nina drückte auf den Ausschaltknopf des Gerätes.
„Was hast du gesagt?“
„Pass … pass … bloß auf … auf der Treppe“, wiederholte Michael, „dass du nicht herunterfällst! Denn wenn du dir das Bein brichst, dann … dann … dann schlag‘ ich dir in die Fresse!“
Nina