Genau in dem Moment, in dem wir das Ortsschild passieren, heulen in dem kleinen Städtchen die Sirenen auf. „Keiner die Nachtigall stört“, ruft meine Nachbarin dem kleinen schwarzen Gegenstand zu, den sie nun wieder vor das Visier ihres Helmes hält. Sie scheint wenig beeindruckt von der für mich absolut nervenaufreibenden Verfolgungsjagd und kichert wie ein kleines Mädchen über ihren Wortwitz. Augenblicklich verstummt das Geheule und ich male mir optimistisch aus, wie die pflichtbewussten Polizisten und Feuerwehrleute auf Abruf mitten in den hektischen Einsatzvorbereitungen innehalten, sich ratlos umschauen und dann schulterzuckend wieder zurück ins Bett gehen. Das wäre zumindest meine Idealvorstellung. Ich fürchte aber, dass der Lärm, den wir mit unserer filmreifen Flucht verursachen, jeden Gedanken an Schlaf im Keim erstickt.
Wir rasen im Zick Zack durch die Straßen. Vorbei an beschaulichen Level 1 Wohngebieten mit modernen Einfamilienhäusern, mitten durch die dazugehörige, verlassene Schaupassage mit ihren dunklen Ladenfenstern und weiter in Richtung der eintönigen Wohnblöcke für die weniger privilegierten Level 2 und 3 Bürger versuchen wir die beharrlichen Verfolger abzuschütteln.
Es folgen einige Straßenzüge voller großer, grauer Betoneinheiten mit schweren Rolltoren. Vermutlich Lagerhäuser für den boomenden Versandhandel. Beim Anblick der vorbeifliegenden grauen Wände und Tore wird mir ganz schwindlig.
Eine kurze Bewegung zu meiner Linken erweckt meine Aufmerksamkeit. Als ich den Kopf drehe, sehe ich gerade noch wie die Schwester meines Befreiers neben mir ihre kleine, schwarze Fernbedienung an die Stirn hebt und diese in einer Art militärischem Gruß mit einer knappen Handbewegung in meine Richtung kippt. Mir ist nicht ganz klar, was sie mir damit sagen will und während ich noch überlege, welche Reaktion sie wohl von mir erwartet, reißt mein Chauffeur das Lenkrad herum und wir rasen geradewegs auf die Betonmauer zu, die sich am rechten Straßenrand auftürmt.
Panisch klammere ich mich am Rücken des Fahrer fest und bohre meine Fingernägel in das weiche Leder seiner Motorradkombi. Offensichtlich bin ich in der verzweifelten Hoffnung, der lieben Frau Doktor zu entkommen, vom Regen in die Traufe geraten und werde jetzt Opfer einer Bande wahnsinniger Geschwindigkeits-Junkies, die versucht, die Gesetze der Physik zu überlisten.
Die Wand kommt näher und näher und zu spät kommt mir der Gedanke, mich durch einen Sprung vom Motorrad vor dem sicheren Aufprall zu retten. Mir bleibt nur noch Zeit, mich noch fester an meinen Vordermann zu pressen und hinter seinem Rücken in Deckung zu gehen, da trifft die Maschine schon mit voller Wucht auf den Beton und... rast einfach hindurch.
Im gleichen Moment schießt ein Motorrad, das unserem inklusive Besetzung zum Verwechseln ähnlich sieht von der anderen Seite der Mauer an uns vorbei auf die Straße.
Kein Knall, kein Rückstoß, keine splitternden Plastikteile oder berstendes Gestein. Nichts lässt darauf schließen, dass gerade zwei Motorräder mit Höchstgeschwindigkeit durch eine massive Wand gebrettert sind. Auch kein Schmerz, wie ich erleichtert feststelle.
Für den Bruchteil einer Sekunde ist die Welt um mich herum in einen eigenartigen Schleier aus Licht gehüllt und dann, als hätte jemand gelangweilt den Kanal gewechselt, befinden wir uns plötzlich in einer riesigen, leerstehenden Lagerhalle. Der Fahrer nutzt den Platz, bremst langsam ab und lässt die Maschine sanft ausrollen, bevor wir zum Stehen kommen. Dann klappt er den Ständer aus, steigt ab und hält mir seine Hand entgegen, um mir ebenfalls herunter zu helfen.
Dankbar ergreife ich sie und klettere unsicher wie ein frisch geborenes Rehkitz mit zitternden Beinen vom Rücksitz des überraschend hohen Fahrzeugs. Hinter mir höre ich eilige Schritte, die sich uns nähern, aber ich bin noch zu benommen, um mich nach der Quelle umzusehen. Mich mit der einen Hand immer noch stützend öffnet der Mann vor mir mit der anderen meinen Kinnriemen, zieht mir vorsichtig den Helm vom Kopf und reicht ihn weiter an die zweite Person, die nun direkt hinter mir steht.
Dann zieht er den eigenen Helm aus. Vor mir steht ein leicht untersetzter Mann Ende 50 mit kurzen, grau-braunen Haaren, passendem, dichten Bart und hellbraunen Augen, der mich besorgt mustert. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich nach der rasanten Fahrt einen deutlich jüngeren und wahrscheinlich auch verwegeneren Zeitgenossen erwartet hatte. Der unerwartete Eindruck wird noch verstärkt als er ein dunkelgrünes Etui aus der Hosentasche zieht und diesem eine dezente Brille mit runden Gläsern entnimmt, die er gewohnheitsmäßig aufsetzt.
„So jetzt kann ich dich auch sehen“, erklärt er. „Kein Kratzer, keine Beule. Das ist doch schon mal was. Wie fühlst du dich?“ Noch etwas mitgenommen öffne und schließe ich hilflos den Mund, scheine aber kurzzeitig vergessen zu haben, wie man damit sinnvoll Buchstaben aneinander reiht. Ich bringe nur unverständliches Gestammel heraus.
„Alles klar, kein Problem. Komm erst einmal in Ruhe an. Ich bin übrigens Günter. Du darfst mich aber auch gerne Brockhaus nennen. Das macht der Rest des Teams auch und mittlerweile habe ich mich irgendwie daran gewöhnt.“
Sein Lächeln ist so offen und ehrlich, dass ich langsam die Fassung wiedererlange und zumindest einen freundlicheren Gesichtsausdruck zu Stande bringe.
„Und dieser junge Mann hier ist unser Genie Tristan.“ Er weist hinter mich und ich vertraue meinen Beinen nun soweit, dass ich seine Hand loslasse und mich nach dem erwähnten Genie umdrehe. Ich erinnere mich nun auch wieder an meine gute Erziehung und strecke meinem Gegenüber höflich die Hand entgegen. „Hallo,“ meine Stimme ist immer noch ziemlich brüchig, aber zumindest sind schon wieder sinnvolle Worte zu erkennen. „Ich bin Emilia. Schön, Sie kennenzulernen.“
Anstatt meine Hand zu ergreifen, tritt der mit seinen circa 1,65m recht kleine Mann einen Schritt zurück und sieht schüchtern zu Boden. „Ich weiß,“ sagt er zu seinen Füßen. „Du kannst mich duzen, wenn du magst. Ich bin einfach nur Tristan. Das Genie kannst du ruhig weglassen.“ Ganz kurz hebt er den Kopf und ich sehe das schelmische Lächeln, das ihm bei seinem kleinen Scherz über die Lippen huscht.
„Tristan hat es nicht so mit Körperkontakt“, erklärt Günter. „Das darfst du nicht persönlich nehmen.“
„Alles gut“, antworte ich und strecke meinem Chauffeur nun ebenfalls die Hand entgegen. „Vielen Dank für die angenehme Fahrt. Ich bin Emilia“, sage ich leicht spöttisch.
„Aah! Du hast deine Stimme und deinen Humor wiedergefunden. Das ist ein sehr gutes Zeichen!“. Er grinst mich fröhlich an.
Nun bringe ich auch endlich die Fragen heraus, die mir unter den Nägeln brennen seit der fremde Lockenkopf plötzlich so unverhofft in Dr. Dorschs Büro aufgetaucht ist: „Ich will nicht unhöflich sein und ich bin euch echt dankbar, dass ihr mich da rausgeholt habt und so, aber: Was ist hier eigentlich los? Wer seid ihr und warum habt ihr mir geholfen?“
„Ich kann verstehen, dass du gerne eine Erklärung für die ganze Aktion hier hättest.“
Günter macht eine umfassende Handbewegung. Dann hebt er die Hände entschuldigend in die Höhe und fährt mit ruhiger Stimme fort:
„Jetzt müssen wir aber erst einmal schauen, dass wir hier weg kommen. Unser kleines Manöver kann sie sicher eine Zeit lang von uns ablenken, aber wir sind noch nicht in Sicherheit.“
Widerwillig gebe ich mich damit zufrieden. Für den Moment. Eine Sache muss ich aber unbedingt gleich wissen: „Darf ich nach meiner Katze schauen? Sie ist bestimmt ziemlich verängstigt und ich würde sie gerne da raus holen.“ Ich zeige auf den schwarzen Kasten über dem Hinterreifen der Höllenmaschine, die uns hierher gebracht hat.
„Natürlich!“, ruft Günter. „Ich bin sicher, es geht ihr gut. Die Box wurde von den Besten der Besten entworfen und eigens für den Transport deiner Katze konstruiert. Sie ist wahrscheinlich nicht besonders glücklich, aber auf jeden Fall unversehrt.“
Vorsichtig öffnet er den Deckel der Kiste und tritt respektvoll einen Schritt zurück. Vielleicht hat er aber auch nur Angst, dass ihm das