„Ist ja alles gut. Nichts passiert, meine Kleine. Alles ist gut“, flüstere ich ihr zu und fühle, wie sich ihr rasender Herzschlag etwas verlangsamt. „Wir sind in Sicherheit“, versichere ich ihr und drücke sie noch fester an mich. „Sind wir doch, oder?“, setze ich lauter und schärfer als beabsichtigt an die beiden Männer gewandt hinzu.
Der kleinere der beiden nickt nur eifrig und sieht mich aus großen Augen an, als wäre er erschrocken darüber, dass ihm jemand böse Absichten unterstellen könnte. Seine kurzen schwarzen Haare wippen dabei ganz aufgeregt und lassen ihn eher wie einen kleinen Jungen als wie ein ausgewachsenes Genie wirken. „Wie gesagt: Noch nicht ganz“, folgt die ernüchternde Antwort von Günter. „Aber wir bringen dich jetzt an den wohl sichersten Ort, den du in dieser gottverlassenen Zeit finden kannst.“
Das klingt schon besser, auch wenn mir der Gedanke, mich wieder auf das Motorrad setzen zu müssen, so gar nicht gefällt.
Günter folgt meinem skeptischen Blick zu der neben uns parkenden Maschine und lacht schallend. „Keine Sorge! Für den restlichen Weg nehmen wir den Wagen. Ist komfortabler. Und weniger auffällig.“
Immer noch lachend geht er am Motorrad vorbei, zu einem alten, weißen Lieferwagen, der ganz hinten in einer Ecke steht und mir bisher gar nicht aufgefallen ist.
„Tristan“, spricht er den anderen über die Schulter hinweg an. „Du kannst Dein Spielzeug jetzt einsammeln, denke ich.“
Der andere trottet davon in Richtung der Wand, durch die wir hereingekommen sind und murmelt dabei beleidigt vor sich hin. „…kein Spielzeug, du ignoranter…“, schnappe ich auf und unterdrücke ein Grinsen. Günter wirft mit einen belustigten Blick zu und marschiert weiter zur Heckklappe des Vans. Er öffnet die Flügeltüren und zieht eine schmale Rampe aus dem Kofferraum. Dann kommt er zurück, schiebt das Motorrad samt Helmen in den Wagen und wirft die Türen zu.
Geschäftig reibt er die Hände aneinander. „So, das hätten wir. Dann machen wir uns mal besser auf den Weg“, sagt er mit einem auffordernden Nicken in Richtung Beifahrertür. Er selbst geht zur anderen Seite des Autos und schwingt sich auf den Fahrersitz.
Mit meiner Katze auf dem Arm erklimme ich etwas umständlich den Beifahrersitz und lasse mich erschöpft darauf plumpsen. Günter wendet den Wagen und ich sehe gerade noch wie Tristan einige Meter vor der Betonmauer in die Hocke geht und sich an einem rechteckigen Kasten zu schaffen macht, der dort auf dem Boden steht.
Plötzlich verschwindet die komplette Wand wie von Zauberhand und gibt den Blick frei auf die von Laternen erhellte Straße und den dunklen Nachthimmel darüber.
Mir fällt die Kinnlade herunter.
„Ich sag doch: Genie!“, bemerkt Günter neben mir und schüttelt anerkennend den Kopf.
Tristan hebt den Kasten hoch und wir fahren ihm entgegen. Als wir auf seiner Höhe anhalten, öffne ich einladend die Beifahrertüre und rutsche rüber auf den mittleren Sitz, um ihm Platz zu machen. Er kann sein Unbehagen kaum verbergen, klettert aber schicksalsergeben zu mir auf die Bank.
Viel bekomme ich von der Fahrt nicht mit. Noch bevor wir die Lagerhäuser hinter uns lassen, schlafe ich völlig erschöpft, aber mit dem instinktiven Gefühl, jetzt endlich in Sicherheit zu sein, ein.
Kapitel 4
Jemand rüttelt sanft an meiner Schulter, ich schrecke ruckartig hoch und schaue mich schutzsuchend um. „Alles gut“, sagt Günter neben mir. „Du hast geschlafen. Wir sind jetzt da.“
Erleichtert atme ich aus und schaue nach rechts zu Tristan, der verlegen meinem Blick ausweicht und dann fluchtartig aus dem Wagen huscht.
„Hast deinen Kopf an seine Schulter gelehnt. Der arme Kerl wusste gar nicht, wie ihm geschieht“, schmunzelt Günter. „Na komm, bringen wir euch zwei Schlafmützen mal rein, damit ihr was in den Magen und ein ordentliches Bett bekommt.“
Ich blicke runter auf meine Katze, die sich in meinem Schoß zusammengerollt hat und selig vor sich hin schnarcht und muss unwillkürlich lächeln.
„Scheint den Schreck gut verkraftet zu haben.“ Günter zwinkert mir kurz zu, steigt aus und läuft um das Auto herum, um mir die Türe zu öffnen.
Dankbar greife ich wieder nach seiner Hand und steige aus. Audrey Hepburn schaut sich kurz verschlafen um, kuschelt sich wieder an mich und lässt sich dann, ganz herrschaftliche Katze, weiter von mir tragen anstatt sich die Mühe zu machen, selbst zu laufen.
Ich folge Günter über einen kurzen Kiesweg zum Eingang eines großen, baufälligen Gebäudes. In der Dunkelheit kann ich keine Details erkennen, aber es scheint sich um eine Art alte Villa zu handeln, die ziemlich zugewuchert in einem kleinen Wäldchen liegt.
Die Türe steht offen und warmes Licht fällt von innen auf das Ende des schmalen Weges. Günter bleibt kurz stehen und bittet mich mit einer einladenden Geste einzutreten. Dann folgt er mir hinein und schließt die schwere Eichentür hinter uns.
Es scheint sich um eine Art Dienstboten- oder Hintereingang zu handeln, der nicht direkt in den Hauptteil des stattlichen Hauses führt, sondern in einen kleinen Anbau mit dunkler Holzvertäfelung an Wänden und Decke. Der Boden besteht aus einfachen schwarz-weißen Fliesen in nicht mehr ganz intaktem Schachbrettmuster.
Auf der linken Seite hängt eine kleine Garderobe, von der ein vergessener, ausgebeulter Zylinder als stummer Zeuge besserer Zeiten auf uns herabblickt. Neben der Garderobe und auf der ihr gegenüberliegenden Seite befinden sich schlichte, schmale Türen aus dem selben dunklen Holz wie Wände und Decke. In der Schwingtüre zu unserer Rechten ist eine Art Bullauge eingelassen, das den Blick auf einen antiken Ofen und eine Wand voll alter Töpfe und Pfannen freigibt. Offensichtlich führt diese in die Küche, daher vermute ich hinter der anderen Türe das Speisezimmer.
„Willkommen im Baumhaus!“. Günter schenkt mir ein warmes, leicht entschuldigendes Lächeln. „Ist schon ein bisschen älter, das gute Stück, aber ich bin sicher, du wirst dich hier genauso wohl fühlen wie wir.“
Die Tür am anderen Ende des kurzen Flures fehlt und die Angeln hängen verlassen am noch vorhandenen Türrahmen. Dahinter ist eine große Eingangshalle zu sehen, die von einer riesigen Holztreppe mit allerlei Schnörkeln und Schnitzereien dominiert wird. Auch der jahrelange Verfall kann den imposanten Gesamteindruck nicht schmälern und ich erwische mich dabei, wie ich mich mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen um die eigene Achse drehe wie ein staunendes, kleines Mädchen im Süßigkeitenladen.
Die gewaltige Treppe gabelt sich und endet dann in einer Galerie mit hölzerner Brüstung, die sich beinahe über die gesamte Länge des ersten Stockwerks erstreckt. Auch in den beiden Etagen darüber ist dieselbe Brüstung zu erkennen. Die Treppen dorthin befinden sich offenbar seitlich der Galerie, sodass der Eingangsbereich nach oben hin offen bleibt. Von der Halle blickt man somit ungehindert auf die meterhohe, kunstvoll bemalte Decke in deren Mitte ein gigantischer, silberner Kronleuchter prangt. Ein großer Rußfleck in dem aufwändigen Deckengemälde darüber zeugt von den unzähligen Kerzen, die diesen früher einmal gesäumt haben müssen. Mit der Zeit wurden diese aber durch elektrische Glühbirnen ersetzt, die nun ein warmes, einladendes Licht verbreiten.
Der leider ebenfalls schon etwas lädierte Fußboden besteht aus großen weißen Marmorplatten , die von roten und grauen Adern durchzogen sind und zum Teil von einem abgewetzten, rot-goldenen Teppich mit floralen Ornamenten verdeckt werden.
Die Eingangstür ist deutlich eindrucksvoller als die kleine Hintertür, durch die wir hereingekommen sind. Gut drei Meter hohe, weiße Holzrahmen mit aufwendigen Schnitzereien halten wunderschöne Buntglasfenster. Leider kann ich die hierauf verewigten Bilder vor dem dunklen Nachthimmel, der dahinter auszumachen ist, nicht genau erkennen. Das muss ich mir unbedingt im Tageslicht noch einmal genauer ansehen. Überwältigt