Das ist mein Dichten und Trachten, daß ich in eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist, Rätsel und grauser Zufall. Mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare Welt abgeschafft – bei der Beschäftigung mit der Wahrheit haben wir die Erklärung der Erscheinungen aufgelöst. (»Erklärung« nennen wir’s: aber Beschreibung ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntnis und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser – wir erklären ebensowenig wie alle Früheren.)
All das ist von Konsequenzen schwer, denn wenn der Gedanke, mit der wahren Welt auch die scheinbare abgeschafft zu haben, nicht einer bloßen Laune entspringt, so legt er Rechenschaft von dem ab, was sich in Nietzsche selbst getan hat: er hat der Welt, in der er gleichwohl den Namen Nietzsche trägt, den Abschied gegeben und wenn er fortfährt, unter diesem Namen zu schreiben, so um den Schein zu wahren: alles ist anders und nichts hat sich geändert; der Glaube, daß sie etwas ändern, ist denen zu überlassen, die handeln: sagt nicht Nietzsche, daß nicht die Menschen der Tat, sondern die der Kontemplation den Dingen ihren Wert verleihen, und daß die Menschen der Tat allein vermöge dieser Wertung durch die Denker handeln können?
Aber diese Abschaffung der scheinbaren Welt mit ihrem Bezug zur wahren Welt vollzieht sich im Lauf eines langen Prozesses, dem man bei Nietzsche kaum zu folgen vermag, wenn man nicht dem Zusammenwirken von Wissenschaftler und Moralisten, und mehr noch dem von Psychologen und Seher in ihm Rechnung trägt; aus dieser Doppelung ergeben sich zwei verschiedene Terminologien, deren dauernde Interferenz einen Faden spinnt, der sich nicht auflösen läßt: die Luzidität des Psychologen, der die Bilder zerstört, hat am Ende nur für den Dichter (und also für die Fabel) gearbeitet, wenn er, die Erfahrung des Dichters, dieses Schlafwandlers am hellichten Tage, durchforschend, die Regionen entdeckt, in denen er selbst, der Psychologe, mit erhobener Stimme träumte.
Diese Analyse des Psychologen, bevor er vom Traum und seinen Visionen überwältigt wird, gegen die er sich zu schützen sucht, erlaubt uns zu verstehen, wie Nietzsche im Namen der rationalen Prinzipien des Positivismus zur Destruktion zugleich des rationalistischen Konzepts von Wahrheit und des bewußten Denkens und seiner Verstandesoperationen kommen kann; wie er, andrerseits, von dieser Entwertung des bewußten Denkens zur Infragestellung der Sprache als eines Kommunikationsinstruments geführt wird; und man sieht jetzt vielleicht deutlicher, wie diese Analyse, die das rationale Denken auf Triebkräfte zurückführt und diesen Triebkräften authentische Existenz zuspricht –, wie diese Analyse in der Abschaffung der Grenzen zwischen Außen und Innen gipfelt; einer Abschaffung der Grenzen zwischen der hic et nunc vereinzelten Existenz und der in der Person des Philosophen selbst zu sich selbst zurückgekehrten Existenz. Was leitet – denn augenscheinlich muß etwas Bestand haben –, was diese Desintegration der Begriffe anleitet, ist jeweils die Kraft des bis zum äußersten Grad der Schlaflosigkeit exaltierten Geistes; eine durchgehaltene Wachsamkeit, welche die Forderung nach einer Redlichkeit zur Verzweiflung bringt, die bis zur Preisgabe der Denkfunktionen selber als einer letzten Knechtschaft, einer letzten Verbindung mit dem geht, was Nietzsche den Geist der Schwere genannt hat.
Die Analyse des Bewußtseins, die sich in den Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft verstreut findet, läßt sich zu folgenden Beobachtungen zusammenfassen:
1. Das Bewußtsein ist die späteste Funktion in der Entwicklung des organischen Lebens, das Unkräftigste auch und folglich das Gefährlichste: wäre die Menschheit, wie sie selber glaubt, mit einem Schlage zum Bewußtsein gelangt, so wäre sie schon seit langem ausgestorben; zum Beweis können die zahlreichen Fehlschlüsse dienen, die das Bewußtsein verursacht hat und die es zu verursachen im individuellen Leben solange nicht aufhört, als es ein Ungleichgewicht der Antriebe erzeugt.
2. Diese Funktion, gar nicht wünschenswert, weil sie einem unberechenbaren Streben, dem Streben nach Wahrheit entspricht, wird einer ersten Bearbeitung durch die anderen Antriebskräfte unterzogen; das Bewußtsein tut sich eine Zeitlang mit dem Selbsterhaltungstrieb zusammen; in der Folge bildet sich der trügerische Begriff eines dauernden, ewigen, unveränderlichen und folglich freien und verantwortlichen Bewußtseins. Dank dieser Überschätzung des Bewußtseins hat man seine allzu rasche Weiterentwicklung vermeiden können. Daher übrigens auch der Begriff der Substanz.
3. Die geistigen Operationen, die dies in seiner Entwicklung rückständige Bewußtsein erfindet, diese Operationen, die zur logischen Vernunft und zur wissenschaftlichen Erkenntnis führen, sind bloß Produkte des Kompromisses zwischen dem Triebleben und dem Bewußtsein. Woraus ist die Logik entstanden? Gewiß aus der Unvernunft, deren Reich zu Anfang unermeßlich war. Von diesem Stadium an wird die Logik, nach Nietzsches positivistischer Beschreibung, zur Waffe der stärksten Triebe und also derjenigen Lebewesen, bei denen sich Aggressivität in Affirmation oder Negation übersetzt, während die Schwächeren im Stadium der Unvernunft bleiben. So in geeigneter Weise gegenüber seiner eigenen Entwicklung im Rückstand, entwickelt sich aus dem falschen Bewußtsein das Denken und sein Bedürfnis, sich durch die Sprache verständlich zu machen; aus ihr entwickeln sich die feineren Operationen, die die logische Vernunft und die rationale Erkenntnis ausmachen.
»An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein – außerordentlich stark angezüchtet worden wäre.«
4. Das Bewußtsein, durch seine antivitale Tendenz bedrohlich, befindet sich also unmittelbar auf dem Rückzug. Und in ihrer Beziehung auf die Erkenntnis zeigt sich diese gefährliche Funktion in ihrem wahren Licht. Die logische Vernunft, aus den Trieben in ihrem Kampf mit den antivitalen Tendenzen des Bewußtseins hervorgegangen, erzeugt Denkgewohnheiten, welche die noch nicht angepaßte Tendenz des Bewußtseins als Irrtümer zu enthüllen bestrebt ist. Diese Irrtümer sind das, was das Leben ermöglicht, und später wird Nietzsche in ihnen Formen des Begreifens der Existenz anerkennen –, diese Irrtümer folgen immer derselben Spielregel: der, daß es Dinge gibt, die dauern, daß es Gegenstände gibt, Stoffe, Körper; daß eine Sache das ist, was sie scheint; daß unser Wille frei; daß was gut für mich auch gut überhaupt ist; – alterslose Überzeugungen, zu Normen geworden, an denen die logische Vernunft ihre Unterscheidung von wahr und nicht-wahr orientiert. Erst »sehr spät«, sagt Nietzsche, »trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntnis. Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet; […]«. Also, bemerkt Nietzsche, liegt die Stärke der Erkenntnisse nicht in dem Grad der Wahrheit, den sie beanspruchen, sondern in ihrem Alter, im Maße ihrer Einverleibung, in ihrem Charakter als Lebensbedingung. Und Nietzsche zitiert das Beispiel der Eleaten, die die sinnlichen Wahrnehmungen in Zweifel ziehen wollten. Die Eleaten, so sagt er, glaubten an die Möglichkeit, die Antinomien der natürlichen Irrtümer zu leben. Doch um die Widersprüche zu bejahen und zu leben, bedurfte es zugleich des unpersönlichen und leidenschaftslosen Wesens des Weisen, den sie erfunden, und folglich verfielen sie der Illusion (ich zitiere immer noch Nietzsche); die Eleaten mußten, da sie von ihrer menschlichen Verfassung nicht absehen konnten, die Natur des Erkenntnissubjekts verkennen, die Gewalt der Triebe in der Erkenntnis leugnen und die Vernunft als vollkommen freies Handeln zu begreifen vermeinen. Wenn Redlichkeit und Skeptizismus – diese gefährlichen Formen des Bewußtseins – sich zu feineren Formen entwickeln konnten, so erst, als zwei widersprüchliche Behauptungen auf das Leben anwendbar schienen, weil alle beide, da wo es möglich war, über den mehr oder weniger großen Nutzen für das Leben zu streiten, zu den grundlegenden Irrtümern paßten. Und auch da konnten sie entstehen, wo neue Behauptungen, die fürs Leben nicht nützlich, aber als Ausdruck eines Gedankenspiels auch nicht schädlich waren, sondern bloß den unschuldigen und glücklichen Charakter jeden Spiels bezeugten. Von hier aus sind Erkenntnisakt und Streben nach Wahrheit insofern eines, als sie beide Bedürfnisse unter anderen Bedürfnissen