Halten wir fest, was Nietzsche hier hervorhebt: die Lust an der Verstellung mit Macht herausbrechend, den sogenannten »Charakter« beiseite schiebend, überflutend, mitunter auslöschend – in der Tat erkennen wir darin mit einem Schlag, was Nietzsche selber bedroht: zuerst die Verstellung, die mit Macht und als Macht herausbricht und den sogenannten »Charakter« überflutet, ihn mitunter auslöscht: was hier hervorsticht, ist der Gedanke, daß die Verstellung nicht nur Mittel, sondern selbst eine Macht ist, daß es also einen Einbruch von etwas mit dem Charakter Inkompatiblen gibt und deshalb eine Infragestellung dessen, was man ist, in einer Situation, die durch das Unbestimmbare selber bestimmt ist; gewiß schreibt Nietzsche ein Überschuß von Anpassungsfähigkeiten, doch ein Überschuß, so bemerkt er, welcher sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu befriedigen weiß: insofern also ist das, was sich im Überschuß von Anpassungs-Fähigkeiten übersetzt, nichts andres als das Dasein selbst. Existenz ohne Zweck, Existenz, die sich selber genügt. Doch kehren wir noch einmal zur ersten Formulierung zurück: die Falschheit mit gutem Gewissen. Auch hierin der Begriff des gewollten Irrtums. Der gewollte Irrtum legt, nach Maßgabe des Scheins, Rechenschaft von der Existenz ab, deren Wesen die sich entziehende Wahrheit, die sich versagende Wahrheit ist.
Das Dasein sucht ein Gesicht, um sich zu offenbaren; der Schauspieler ist sein Dolmetscher. Was offenbart das Dasein? Die Möglichkeit eines Gesichts: vielleicht das eines Gottes.
In einer anderen seltsamen Passage der Fröhlichen Wissenschaft (Aphorismus 356) mit dem Titel Inwiefern es in Europa immer »künstlerischer« zugehn wird weist Nietzsche darauf hin, daß die Lebens-Fürsorge fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rolle, ihren sogenannten Beruf, aufzwingt; einigen bleibt dabei die Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den meisten wird sie gewählt. Das Ergebnis ist seltsam genug: fast alle verwechseln sich mit ihrer Rolle – sie selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als sich ihr »Beruf« entschied – und wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen können: denn es ist nunmehr zu spät! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur. Der Abschnitt behandelt weiterhin den Niedergang der Gesellschaft, aber was ich hier festhalten will, ist dies: was hier als gesellschaftliches Phänomen beschrieben wird, erscheint in der Tat als Bild des Schicksals selbst und insbesondere von Nietzsches Schicksal. Man glaubt das, was man ist, frei zu wählen, aber tatsächlich wird man gezwungen, eine Rolle zu spielen und ist der nicht, der man ist; man ist gezwungen, die Rolle dessen zu spielen, der man außer sich ist. Man ist nie da, wo man ist, sondern immer nur da, wo man der Schauspieler jenes Andren ist, der man ist. Die Rolle stellt dabei den Zufall in der Notwendigkeit des Schicksals dar. Man kann nicht anders, als sich selber zu wollen, aber man kann nie etwas andres als eine Rolle wollen. Dies wissend, spielt man mit gutem Gewissen. So gut wie möglich spielen, heißt sich verstellen. Und so ist Baseler Philologie-Professor oder aber Autor des Zarathustra zu sein, bloß eine Rolle. Was man dahinter verbirgt ist, daß man bloß Dasein ist, und was man sich selber verbirgt ist, daß die Rolle, die man spielt, sich auf diejenige bezieht, welche das Dasein selber ist.
Dies Problem des Schauspielers bei Nietzsche und des Einbruchs einer Macht in den sogenannten »Charakter«, den sie beiseite schiebt, überflutet und mitunter auslöscht –, dies Problem, sage ich, betrifft unmittelbar Nietzsches eigene Identität, bedeutet die Infragestellung dieser Identität als einer zufällig angenommenen und folglich vielleicht als Rolle gespielten – sofern nämlich, unter anderen möglichen ausgewählt, diese Rolle ebensogut zugunsten einer von den anderen tausend Masken der Geschichte hätte verworfen werden können. Diese Konzeption ist aus der Einschätzung des gewollten Irrtums, der Verstellung als Schein hervorgegangen und es bleibt nun zu bestimmen, in welchem Maße der Schein, wenn er denn ein Begreifen des Daseins ist, eine Offenbarung des Seins im Daseienden darstellt – eine Offenbarung des Seins im zufälligen Daseienden.
Ist das Dasein noch eines Gottes fähig, fragt Heidegger. Und diese Frage stellt sich ebenso im biographischen Kontext dessen, der zum ersten Mal den Satz: Gott ist tot als eine Botschaft verkündet hat, die sich im Kontext der Ereignisse und des Denkens der gegenwärtigen Epoche ergibt.
Am Vorabend seines Zusammenbruchs in Turin erwacht Nietzsche mit dem Gefühl, zugleich Dionysos und Christus zu sein, und er signiert mit dem einen oder dem anderen Namen verschiedene Briefe, die er an Strindberg, an Burckhardt und andere sendet.
Bis zu diesem Augenblick war nur von einem Gegensatz zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten die Rede: – Hat man mich verstanden? – Dionysos gegen den Gekreuzigten… Und nun, da Professor Nietzsche untergegangen ist, oder besser, da er endlich alle Grenzen zwischen Außen und Innen niedergerissen hat, wird von ihm erklärt, daß zwei Götter in ihm wohnen. Setzen wir alle pathologischen Erklärungsversuche beiseite und nehmen wir diese Signaturen als ein gültiges Urteil über das, was den ihm eigenen Begriff des Daseins ausmacht. Die Substitution von Nietzsches Namen durch die zweier Götter rührt unmittelbar an das Problem der Identität der Person in Beziehung auf einen einzigen Gott, der die Wahrheit ist, und auf mehrere Götter, sofern sie einerseits eine Auslegung des Seins, andrerseits ein Ausdruck der Pluralität in einem und dem selben Individuum sind.
Er hält also am Bild Christi fest – oder, wie er selbst schreibt, an dem des Gekreuzigten, dem erhabenen Symbol, das für ihn das unverzichtbare Gegenbild des Dionysos bleibt; die zwei Namen des Gekreuzigten und des Dionysos halten dabei durch ihren Widerstreit das Gleichgewicht.
Wir kommen hier, wie man sieht, auf das Problem des nicht mitteilbaren Authentischen zurück und auch Karl Löwith stellt in diesem Zusammenhang in seinem bedeutenden Werk über die ewige Wiederkehr die Frage nach der Glaubwürdigkeit von Nietzsches Lehre: im Falle er nicht Dionysos ist, bricht sein gesamtes Gebäude zusammen. Ich halte dagegen, daß Löwith nicht gesehen hat, in welchem Sinn das Gleichnisbild Rechenschaft vom Authentischen ablegen kann und in welchem nicht.
Wenn Nietzsche verkündet Gott ist tot, so bedeutet dies, daß mit Notwendigkeit Nietzsche seine eigene Identität verlieren muß. Denn was hier als ontologische Katastrophe dargestellt wird, entspricht exakt der Resorption der wahren und scheinbaren Welt durch die Fabel: in der Fabel gibt es nur noch eine Pluralität von Normen oder vielmehr überhaupt keine Norm im eigentlichen Sinn dieses Wortes, denn das Prinzip verantwortlicher Identität selbst ist darin völlig unbekannt, sofern