Die hier vereinten Texte der führenden Köpfe des französischen Poststrukturalismus machen das deutsche Lesepublikum mit einer bis heute ungewohnten Herangehensweise an das schwer zu fassende Œuvre eines Denkers bekannt, der sich hierzulande nach wie vor den unterschiedlichsten Instrumentalisierungen ausgesetzt sieht. Die Autoren dieser Sammlung stellen insgesamt die Legitimität in Frage, Nietzsches Werk nach der Logik des Gegensatzes von Metaphysik und Nicht-Metaphysik, Aufklärung und Gegenaufklärung, Philosophie und Literatur zu bestimmen.
Der Herausgeber
Werner Hamacher, geboren 1948, Literaturkritiker und Theoretiker der Dekonstruktion und Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Von 1984 bis 1998 lehrte er an der Johns Hopkins University in Baltimore/Maryland. Seine Arbeiten liegen im Grenzgebiet zwischen den Literaturwissenschaften und der Sprach- und Geschichtsphilosophie, im Bereich Ästhetik und Hermeneutik.
Eine Auswahl seiner Veröffentlichungen: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan (1998) – (Mithrsg.) Paul Celan (1988) – pleroma. Zu Genesis und Struktur einer dialektischen Hermeneutik bei Hegel (1978).
Nietzsche aus Frankreich
Essays von
Georges Bataille, Maurice Blanchot, Jacques Derrida, Michel Foucault, Pierre Klossowski, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und Bernard Pautrat
Herausgegeben
von
Werner Hamacher
E-Book (EPUB)
© CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2022
Alle Rechte vorbehalten.
Covergestaltung: nach Entwürfen von MetaDesign, Berlin
Print-Ausgabe: EVA/Europäische Verlagsanstalt 2007
EPUB:
ISBN 978-3-86393-608-2
Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeischeverlagsanstalt.de
Inhalt
Werner Hamacher
Georges Bataille
Nietzsche im Lichte des Marxismus
Pierre Klossowski
Nietzsche, Polytheismus und Parodie
Michel Foucault
Maurice Blanchot
Nietzsche und die fragmentarische Schrift
Michel Foucault
Nietzsche, die Genealogie, die Historie
Philippe Lacoue-Labarthe
Bernard Pautrat
Jacques Derrida
Jean-Luc Nancy
»Unsre Redlichkeit!« (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche)
Werner Hamacher
Echolos
Unter dem Datum des 10. Dezember 1898 hat André Gide in seinen fiktiven Briefen an Angèle, die zuerst in der Zeitschrift L’Ermitage, später zusammen mit anderen Essays, Vorträgen und Reflexionen unter dem zweideutigen Titel Prétextes veröffentlicht wurden, sein ironisches Lob auf die Verspätung der französischen Übersetzung von Nietzsches Werken damit begründet, daß – ich übersetze – dank dieser grausamen Langsamkeit der Einfluß Nietzsches dem Erscheinen seiner Werke vorausgegangen sei. Fast, so fährt Gide fort, war die französische Publikation der Werke verzichtbar; »denn man kann geradezu die Behauptung aufstellen, daß Nietzsches Einfluß wichtiger ist als sein Werk, oder gar, daß sein Werk nur eines des Einflusses ist.«
Die Verspätung der Texte, so will es Gides Bemerkung, bringt fast die Wahrheit über die Texte an den Tag: daß die Wirkung das Werk übertrifft, daß das Werk wesentlich in seiner Wirkung beruht und unabhängig von ihr keinen Bestand, keine Substanz hat, und daß das Werk, von seiner Wirkung determiniert, das Werk eben dieser Wirkung ist. Man muß nicht so weit gehen, bei dem Begriff ›Einfluß‹ an einen influxus physicus und die astrologischen Konnotationen des Wortes zu denken, um zu bemerken, daß Gide in seiner Charakterisierung von Nietzsches Wirkung in Frankreich an die Stelle der Substantialität des Werks die Substantialität seiner Wirkung setzt. Es bedarf nur eines Blicks auf einige von Nietzsches »eigenen« Überlegungen, um in Gides Theorie ihrer Wirkung – und also in der Wirkung, die sie auf Gide getan haben – ein getreues Echo zumindest einer der Behauptungen Nietzsches, und also in seiner Wirkung das Werk zu erkennen. Im dreizehnten Aphorismus der ersten Abhandlung der Genealogie der Moral nämlich polemisiert Nietzsche gegen die Überzeugung, es gebe hinter dem Starken ein indifferentes Substrat […], dem es freistünde, Stärke zu äußern oder auch nicht. Aber – so hält Nietzsche diesem moralischen und erkenntnistheoretischen Glauben entgegen – es gibt kein solches Substrat; es gibt kein Sein hinter dem Tun, Wirken, Werden; »der Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das Tun ist alles. Daß es hinter dem Tun noch einen Täter, hinter dem Wirken noch ein Sein gibt, ist für Nietzsche nichts als eine Illusion der Grammatik, in der die gesamte Geschichte der Philosophie seit der Lehre des Demokrit von einer unteilbaren Grundfigur, dem Atom, bis hin zur kantischen Doktrin von einem Ding an sich und zur Lehre des spekulativen Idealismus von einem substantiellen Subjekt, heiße es nun Wissen oder Werk, Geist oder Darstellung, befangen ist. Wie immer das Substrat benannt sein mag, es verdankt sich der trügerischen Disjunktion zwischen grammatischem Subjekt und Prädikat im Aussagesatz und deshalb dem, was Nietzsche die Verführung der Sprache nennt. Nicht bestimmten Gegenständen werden bestimmte Eigenschaften prädiziert – so argumentiert Nietzsche –, sondern nie endgültig bestimmbare Kraftimpulse sprechen sich Eigenschaften zu und sind nichts anderes als eben dieses Zusprechen: Prädikationen, die sich in präkonventionellen, Konventionen erst setzenden Akten vollziehen. Die Grammatik des Aussagesatzes ist bloß die illusorische Figur, in der sprachliche Akte festgeschrieben und zum Gegenstand irreführender Zerlegungen in verschiedene Funktionen gemacht werden. Das Subjekt – ob nun des Autors oder des Lesers – ist bloß die Figur, zu der ein Akt; das Werk die Figur, zu der sein Wirken entstellt ist.
Die Rede vom Werk und die Rede von einem Autor – von jenem »Herrn Nietzsche«, den die Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft zu ignorieren empfiehlt – beruht also nicht nur auf einem harmlosen grammatikalischen