Alles, was ans Licht des Bewußtseins steigt, steigt nie anders als mit dem Kopf nach unten auf; die Bilder der Nacht verkehren sich im Spiegel des bewußten Denkens; es gibt darin eine tief in das Gesetz des Seins eingeschriebene Notwendigkeit, die im universellen Rad, dem Bild der Ewigkeit deutlich wird – daß schließlich die Verkehrung der Nacht in Tag und des Schlafens in Wachen aus diesem Gesetz resultiert, werden wir später sehen. Es bleibt zu bemerken, daß das bewußte Denken sich nie anders denn in und durch die Unkenntnis dieses Gesetzes der Wiederkehr bildet; alles bewußte Denken sieht vorwärts, identifiziert sich an einem Ziel, das es vor sich als seine Definition aufstellt. Doch wenn das bewußte Denken die Bilder der Nacht in hellen Tag umzukehren strebt, so weil es das ihm Äußerliche zum Ausgangspunkt nimmt und einen Urtext zu sprechen vermeint, den es nicht kennt, während es ihn gegen seinen Sinn übersetzt. »Mein Gedanke ist, wie man sieht: daß das Bewußtsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Herden-Natur ist…; das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Teil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Teil – denn allein dieses bewußte Denken geschieht in Worten, das heißt in Mitteilungszeichen und das Bewußtwerden unsrer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixieren zu können und gleichsam außer uns zu stellen, ist nur in bezug auf Gemeinschafts- und Herden-Nützlichkeit fein entwickelt worden; und daß folglich jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu verstehen, ›sich selbst zu kennen‹, doch immer nur grade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewußtsein bringen wird, sein ›Durchschnittliches‹ – … Unsre Handlungen sind im Grunde allesamt auf eine unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie ins Bewußtsein übersetzen, scheinen sie es nicht mehr…« Und, um zu schließen: »daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist.«
»… Es ist, wie man errät, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnistheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängengeblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von ›Ding an sich‹ und Erscheinung: denn wir erkennen bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ›Wahrheit‹: wir ›wissen‹ (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier ›Nützlichkeit‹ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehn.«
Nach dieser Definition stellt das bewußte Denken nie mehr als den nützlichsten, weil den allein mitteilbaren Teil unserer selbst dar, und was wir an Wesentlichstem haben, bleibt folglich das nicht-mitteilbare, nutzlose Pathos.
Unter individuell, wesentlich und dem Wesentlichstem versteht Nietzsche keinesfalls das, was unter diesen Namen allgemein geläufig ist; man wird noch sehen, in welcher Weise das Individuelle und das Nicht-Individuelle sich in einer ununterscheidbaren Einheit zusammenfinden, die von der Sorge um Authentizität geboten wird; in diesem Zusammenhang werden wir bei Nietzsche auf eine Reihe von Schwierigkeiten stoßen.
Wenn das bewußte Denken unfehlbar an dem Verrat übt, was wir als unser Wesentlichstes besitzen, wie kann sich dann dies Wesentliche auch nur uns selbst mitteilen? Wie kann es sich vom Herdenhaften unterscheiden, das immer schon unter dem pejorativen Begriff der Nützlichkeit steht; wie kann unser Wesentliches unserem eigenen Nützlichkeitsdenken entrinnen? Ist das Authentische an uns etwas in seiner Reinheit ganz und gar Nutzloses und so erst in Nietzsches Sinn eigentlich Wertvolles, ein Begreifen der Existenz, das sich selber genügt, die Möglichkeit, eins und alles zugleich zu sein?
Für das bewußte Denken – das Herden-Denken, das nichts für uns Wesentliches offenbart, für dies von Nietzsche für wertlos erklärte Denken ist das größte Elend dies, ohne Ziel zu sein. Zum Beispiel das Fehlen einer Wahrheit, die das bewußte Denken als höchstes Ziel zu erreichen suchen könnte. Das Bewußtsein muß sich seiner Natur nach auf etwas vor ihm Liegendes zubewegen, immer auf der Suche nach einem Ziel, das seine eigene Definition ist.
Umgekehrt ist der größte Genuß für das Pathos, im unbewußten Leben der Triebe, in diesem für uns Wesentlichen ohne Ziel zu sein. Und wenn andrerseits der Glaube an ein Ziel das Bewußtsein glücklich und das Denken sicher macht, so wird die Ausrichtung an einem Ziel vom Pathos als größter Notstand erfahren und wenn Nietzsche Spinoza kritisiert, meint er nichts andres als dies. Denn auch wenn die Triebe als Bedürfnisse das, was das Bewußtsein sieht, nicht kennen, so stellten sie doch das vor, dessen Bedürfnisse sie sind. Und so müssen sie das Bild, das sie von sich selbst haben, augenblicklich verlieren, sobald das Bewußtsein ein Ziel aufrichtet. Bilder ihrer selbst, veräußern die Triebe ihr eigenes Bild zugunsten dessen, was ihnen von Natur her unbekannt ist, zugunsten des Ziels.
Unser Wesentliches, wenn es im unausdrückbaren und durch sich selbst nicht mitteilbaren Pathos liegt, stellt als Gesamtheit des Trieblebens eine Gruppe von Bedürfnissen dar; aber sucht es nicht in der Selbstvergeudung seine Befriedigung? Und wie kommt es zu dieser Vergeudung und wie bringt sie es zur Befriedigung? Unser tiefstes Bedürfnis spricht das Wesentliche unsrer selbst zum Beispiel im Lachen und im Weinen aus und vergeudet sich als Lachen und Weinen selber, die das Bild dieses Bedürfnisses sind – Lachen und Weinen, die unabhängig von jedem Motiv entstehen, welches das bewußte Denken in seiner Zweckmäßigkeit ihnen zu Recht oder Unrecht beilegen mag. Und so verschwendete sich unser tiefstes Bedürfnis und der Verlust jeden Ziels würde für einen Augenblick mit unserem tiefen Glück zusammenfallen.
Das Pathos versteht also sehr wohl uns, während wir an seiner Art, zu verstehen, nicht teilhaben können. Denn woher kommt uns plötzlich dies Fehlen eines vernünftigen Motivs und diese Befriedigung, die wir im Lachen oder Weinen vor dem offenbar grundlosesten Schauspiel finden, wie es uns die Ansicht einer plötzlich enthüllten Landschaft oder die Brandung am Meeresstrand bietet; etwas in uns lacht oder weint, das, um sich unsrer zu bedienen, uns verzückt und uns selbst uns entzieht; heißt das, daß dies Etwas nie anders als in den Tränen und im Lachen gegenwärtig ist? Denn wenn ich in dieser Weise lache und weine, verstehe ich nur, daß dies unbekannte Motiv, das in mir weder Gestalt noch Sinn gewonnen hat, sofort verschwindet, wenn es nicht das Bild dieses Waldes oder dieser eifersüchtigen Wellen über verschütteten Schätzen ist. In Beziehung auf dies unbekannte Motiv, das mir diese äußeren Bilder verbergen, bin ich nur Bruchstück, wie Nietzsche schreibt, mir selbst nur ein Rätsel und grauser Zufall. Und als Bruchstück, als Rätsel, als Zufall bleibe ich in Beziehung zu meinem Wesentlichsten, das sich, vielleicht, in diesem Lachen und diesem Weinen ohne vernünftigen Grund ausgesprochen hat; doch dies Wesentlichste, das sich in dieser Weise geäußert hätte, würde einem dem Licht des Bewußtseins verborgenen Bilde entsprechen, einem gegen mich selbst verkehrten Bilde, das ich, in der Perspektive des Ziels befangen und bei dem Versuch, diesem Lachen oder Weinen das größte Ausmaß an Bewußtsein zu schenken, zu begreifen versäumt habe; und es muß also eine Notwendigkeit geben, die mich lachen oder weinen machen will, als würde ich freiwillig lachen oder weinen; und ist diese Notwendigkeit nicht die selbe wie diejenige, die die Nacht in Tag verkehrt, den Schlaf in ein Wachen, darin das Bewußtsein seine Ziele aufrichtet? Sollte es nicht die selbe Notwendigkeit sein, die die Bilder des hellen Tages wieder in die der Nacht verkehrt? In der Perspektive auf ein Ziel leben und denken bedeutete also für mich, von meinem Wesentlichsten mich entfernen, von dieser Notwendigkeit, die sich in mir als mein tiefstes Bedürfnis ausspricht; mein Wesentlichstes wiederzuerlangen bedeutete folglich, gegen den Strich meines Bewußtseins zu leben, und in diese Notwendigkeit, die mich im Lachen und im Weinen überrascht hat, hätte ich all mein Wollen und mein Vertrauen zu setzen; denn dieselbe Bewegung, die das Bewußtsein aus der Nacht in die Morgenröte, wo sie ihr Ziel setzt, hinauswirft, entfernt mich von diesem Ziel, um mich zu dem zurückzuführen,