In Sachen ›Nietzsche in Deutschland‹ war das zwanzigste Jahrhundert zum größeren Teil nur eine einfallslose Variante des neunzehnten, das Nietzsche noch selber kannte und unter dessen »Völkern und Vaterländern« er eine Wahl getroffen hatte, die seinem Scharfblick noch hundert Jahre nach seinem Ende Ehre macht. In Ecce homo schreibt er: In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und New-York – überall bin ich entdeckt: ich bin es nicht in Europas Flachland Deutschland … […] Man nennt nicht umsonst die Polen die Franzosen unter den Slaven – und es ist gerade seine polnische Herkunft, die er auf den vorangehenden Seiten gefeiert hat: nicht zwischen Polen und Frankreich, nicht in Deutschland, sah er den geographischen Ort seiner Philosophie, sondern jenseits der deutschen Grenzen nach Osten und Westen. In seiner philosophischen Topologie war es aber insbesondere Frankreich, das er als Ort der audaces et finesses und eines esprit zu erreichen versuchte, der sich noch immer der Verführung zu metaphysischen Zwangsvorstellungen zu erwehren wußte. Deutsch denken, deutsch fühlen – ich kann alles, aber das geht über meine Kräfte … Mein alter Lehrer Ritschl behauptete sogar, ich konzipierte selbst noch meine philologischen Abhandlungen wie ein Pariser romancier – absurd spannend. Nietzsche ist in einer durch den Faschismus verkommenen und seither von einem imaginären Internationalismus diskreditierten Tradition derjenige gewesen, der die Frage nach dem sprachlichen, kulturellen und historischen Idiom der Philosophie am radikalsten gestellt, und einer der wenigen, die auf sie eine entschieden xenophile Antwort gegeben haben.
Im 254. Aphorismus von Jenseits von Gut und Böse bezeichnet er als einen der Beweggründe für seinen frankophilen Widerstand gegen die geistige Germanisierung den Umstand, daß nur in Frankreich die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften ausgebildet worden sei, zu Hingebungen an die ›Form‹, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen, erfunden ist – eine Fähigkeit, aus der eine Art Kammermusik der Literatur hervorgegangen sei. Auch wenn Nietzsche in seiner Einschätzung ungerecht war und mit seiner Zuweisung des kammermusikalischen Privilegs an Frankreich nicht ohne weiteres recht hatte –: die Texte, die seinen Schriften zwischen den fünfziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts von französischen Autoren gewidmet worden sind und von denen dieser Band eine kleine Auswahl versammelt, zeichnen sich in der Tat vor denen aus anderen »Völkern und Vaterländern« dadurch aus, daß in ihren besten die Form einer Art Kammermusik der Analyse zur Meisterschaft ausgebildet ist. Das Gespür für Rhythmik und Synkopierung sowohl der literarischen wie der argumentativen Bewegungen in Nietzsches Texten, der Sinn für dissonante Verschränkungen in der Komposition und Entwicklung seiner Themen, für die Nuancen der Intonation und die Fermaten, die das Idiom dieser Texte bestimmen –, die Hellhörigkeit für das einzelne Wort und die marginale, fast vergessene Eintragung, die diese französischen Autoren charakterisiert, ist keine ›ästhetische‹ Tugend, es ist die philosophische Tugend der gelassenen Aufmerksamkeit auf das Erstaunliche am scheinbar Selbstverständlichen und am unscheinbar Beiläufigen. Dieser Aufmerksamkeit verdankt sich die Intimität – die alles andere als unkritische Intimität – ihrer Kenntnis der Texte, ihr verdankt sich die Disziplin, mit der sie ihre bestimmenden Themen analysieren, und ihr die Distanz zu diesen Texten und Themen – einer Distanz, die an jeder Stelle die Neigung zu Idealisierung, Identifikation oder Verwerfung ernüchtert.
Diese Aufmerksamkeit richtet sich nicht allein auf die Verarbeitung der Formelemente, die Nietzsches Schriften idiomatisiert, sondern gleichzeitig auf diejenigen, die zum sujet seiner Schriften geworden sind und deren Zugehörigkeit zu den »großen Themen« seines Denkens er selber mit Nachdruck betont hat. Klossowski und Blanchot – der erste einer der differenziertesten Nietzsche-Übersetzer, beide Essayisten von hohem Rang und Autoren der großen philosophischen Erzählliteratur der Moderne – diskutieren nicht nur die Form der Parodie, sondern diejenigen Veränderungen, die die Lehre vom Willen zur Macht und von der ewigen Wiederkehr des Gleichen unter der Optik der Parodie, der lächerlichen Entstellung und des gewollten Irrtums in Nietzsches Behandlung dieser Lehre erfährt: sie wird zum Vexierbild einer Lehre, zur Parodie ihrer selbst, zur Parodie einer Parodie, die kein Original mehr zum Vorbild ihrer Entstellungen hat: die literarische Form (der Verformung) ist in den innersten Kern des philosophischen Gedankens gedrungen und hat ihn gespalten; sie diskutieren nicht nur die Form des Fragments, sondern die Notwendigkeit, mit der jede Aspiration aufs System, wenn sie nur redlich ihre eigene Struktur reflektiert, in eine fragmentarische Schrift umschlagen muß, die das System – und den systematischen Anspruch noch jeder einzelnen Aussage – auf eine heterogene Pluralität und auf eine Kontingenz der Rede hin öffnet, die sich der Dialektisierung entzieht. Wie wenig eine Philosophie, die sich als Agentin von Begriffsbewegungen versteht, fähig ist, das gesamte Feld ihrer sprachlichen Formen zu kontrollieren, zeigt Lacoue-Labarthes Analyse von Nietzsches Arbeiten zur Rhetorik nicht weniger deutlich als die psychoanalytischen Anmerkungen es tun, die Pautrat zum Verständnis einer unterdrückten Metapher für den Gedanken der ewigen Wiederkehr beisteuert: eine rhetorische Figur ist nie bloß das Instrument des Willens zur Macht des Begriffs, wenn dieser Wille ihrer bedarf, um allererst Wille zu werden. Der Wille ist machtlos gegen die Drohung, selber zu einer solchen rhetorischen Figur zu werden. Nietzsches Frage nach dem Willen – der als Wille zur Macht immer Wille zur Macht des Willens und also Wille zum Willen sein muß – läßt ihn nie als unbedingtes Subjekt seiner selbst und seiner Wirkungen gelten, sondern stellt die Frage nach seiner Konstitution: nach einer Konstitution, zu deren Bedingungen immer auch das Nicht-Wollen und die Unfähigkeit, das Wollen zu wollen, gehören können. Das heißt aber, daß sich der Wille nie im Stand der Autohomoiosis, nie im Stand einer Wahrheit findet, die in der Korrespondenz mit sich selbst als eigentlicher und ernstgemeinter Rede liegt, sondern daß er nur der Forderung nach einer solchen Wahrheit ausgesetzt sein kann und sich in der Forderung nach Redlichkeit erschöpft. Von ihr zeigt Nancy, daß sie die imperative Wahrheit einer Ethik artikuliert, der keine wertende und also auch keine umwertende Moral entsprechen kann.
Wenn deutsche Leser von Rang, wie Heidegger und Adorno, Nietzsche auf den Höhenkamm der abendländischen Metaphysik oder in den Schatten der untergehenden Aufklärung stellen, so bezweifeln die hier zugänglich gemachten französischen Autoren, daß der philosophiegeschichtliche Ort von Nietzsches Denken überhaupt noch nach der Logik des Gegensatzes zwischen Metaphysik und Nicht-Metaphysik, Aufklärung und Gegenaufklärung bestimmt werden kann. Der Grund für jede derartige Kontrastierung ist nämlich erschüttert, wenn plausibel gemacht werden kann, daß der Wille als Wille zur Macht in seiner Selbstbeziehung nie einfach als Subjekt und Objekt, als Aktivum und Passivum, Gebender und Nehmender auftreten kann, ohne sich einer Bewegung auszusetzen, die sich seiner Kontrolle entzieht. Ein Denken, das die Oppositionslogik der klassischen Metaphysik unterläuft, kann angemessen nicht mehr in Begriffen dieser Logik erfaßt werden. So wenig wie das Denken in Thesen und Antithesen verfängt bei Nietzsche die Frage nach dem Sinn und noch nach dem Sinn von Sein: denn jede Sinnfrage, auch die radikalisierte der fundamental-ontologischen Hermeneutik, bleibt einer vorkritischen Theorie des Sinns verhaftet, solange sie dessen Möglichkeit als gegeben annimmt.