Gott ist tot bedeutet nicht, daß die Gottheit aufhört, eine Auslegung des Daseins zu sein, vielmehr daß der absolute Garant der Identität des verantwortlichen Ich im Horizont von Nietzsches Bewußtsein verschwindet, von Nietzsche, der seinerseits sich mit diesem Verschwinden vermischt.
Wenn sich der Begriff der Identität verflüchtigt, bleibt vorerst, was auf das Bewußtsein zukommt, nur der Zufall. Bislang konnte es das Zufällige aufgrund seiner anscheinend notwendigen Identität anerkennen, nach deren Maß es alle Dinge in seinem Umkreis als notwendig oder zufällig beurteilen konnte.
Doch nachdem sich ihm das Zufällige als notwendige Wirkung eines universellen Gesetzes offenbart hat, des Glücksrads, kann es dazu kommen, daß es selbst sich als zufällig ansieht. Es bleibt ihm nur, zu erklären, daß seine Identität selbst ein Zufall sei, willkürlich für notwendig gehalten, frei, sich selbst als das universelle Glücksrad anzusehen, frei, die Totalität der Fälle, das Zufällige selbst in seiner notwendigen Totalität, wenn es kann, zu umfassen.
Was übrig bleibt, ist also das Sein und das Wort ›sein‹, das nie sich auf das Sein selbst, sondern auf das Zufällige bezieht. In Nietzsches Erklärung: Ich bin Chambige, ich bin Badinguet, ich bin Prado – jeder Name der Geschichte bin im Grunde ich –, wir sehen in dieser Erklärung das Bewußtsein verschiedene Möglichkeiten des Seins wie ebenso viele Lose aufzählen, die sämtlich das Sein wären, und sich dabei des augenblicklichen Gewinns bedienen, der Nietzsche heißt, der aber als Gewinn eben zugunsten einer generöseren Bezeugung des Seins abgedankt hat: zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen…, man muß Opfer bringen, wie und wo man lebt.
Das Dasein als ewige Wiederkehr aller Dinge erzeugt sich in den Gestalten so vieler Götter wie es Auslegungsmöglichkeiten in der Seele der Menschen hat. Wenn der Wille dieser dauernden Bewegung der Welt angehört, so ist es zuerst der Kreis der Götter, den er betrachtet. So heißt es im Zarathustra:
Die Welt ist als ewiges Sich-Fliehn und -Wiedersuchen vieler Götter, als das selige Sich-Widersprechen, Sich-Wieder-Hören, Sich-Wieder-Zugehören vieler Götter…
Ohne Zweifel ist die nietzscheanische Version des Polytheismus notwendigerweise von der antiken Frömmigkeit ebensoweit entfernt wie deren Begriff des göttlichen Zeugungstriebs der vielen Götter vom christlichen Begriff der Gottheit. Wovon aber diese »Version« Zeugnis ablegt, ist die Weigerung, einer atheistischen Moral zu gehorchen, die für Nietzsche nicht weniger unerträglich war als die monotheistische Moral und er konnte in der atheistischen und humanistischen Moral nichts anderes sehen als die Fortsetzung dessen, was er als die Tyrannei der einen und einzigen Wahrheit denunziert hatte – welches auch immer ihr Name war und ob sie sich nun als kategorischer Imperativ oder in der Gestalt eines ausschließlichen persönlichen Gottes darstellte. Und in der Tat erweist sich der Unglaube gegen einen einzigen und gesetzgebenden Gott, einen Gott, der die Wahrheit ist, als wahrhaft göttlich inspirierte Gottlosigkeit und verbietet jeden Rückzug der Vernunft hinter bloß menschliche Grenzen. Nietzsches Gottlosigkeit diskreditiert nicht bloß den vernünftigen Menschen, sondern macht sich noch zum Komplizen all der Phantasmen, welche als Reflexe dessen die Seele bevölkern, was der Mensch hat ausstoßen müssen, um zu einer rationalen Definition seiner Natur zu gelangen; nicht daß diese Gottlosigkeit auf die simple Entfesselung blinder Mächte aus wäre, wie man in der Nietzsche-Interpretation zu behaupten allgemein übereingekommen ist, denn er hat nichts gemein mit einem Vitalismus, der mit allen von der Kultur erarbeiteten Formen tabula rasa macht; Nietzsche ist der Antipode eines jeden Naturismus; und Nietzsches Gottlosigkeit erklärt sich selber für diese Kultur tributpflichtig; deshalb kann man in der Beschwörung des Zarathustra einen Appell zum Aufstand der Bilder vernehmen, derjenigen Bilder, die die menschliche Seele in ihren Phantasmen, im Kontakt der dunklen Kräfte in ihr, zu formen fähig ist; Phantasmen, die die für die Seele als Fähigkeit unerschöpflichen Metamorphosen zeugen, als ein universell ungestilltes Bedürfnis nach Gestaltung, worin die verschiedenen außermenschlichen Formen des Daseins sich der Seele als ebenso viele Möglichkeiten des Seins darbieten: Stein, Pflanze, Tier, Stern, sofern sie jeweils Möglichkeiten des Lebens der Seele selbst sind; dieselbe Fähigkeit zur Metamorphose, die unter der Herrschaft des ausschließlich normativen Prinzips die große Versuchung darstellt, gegen die der Mensch jahrtausendelang hat kämpfen müssen, um sich selbst zu definieren; nicht daß in diesem Kampf um die Selbstdefinition die Fähigkeit zur Metamorphose nicht selber zum Ausscheidungsprozeß, der im Menschen als seinem letzten Produkt gipfeln mußte, beigetragen hätte: der beste Beweis dafür ist die Aufhebung der Schranke zwischen Göttlichem und Menschlichem und die wunderbare Kompensation, durch die in dem Maße, wie der Mensch seiner Animalität, Vegetabilität, Mineralität entsagte, in dem Maße auch, wie er seine Begierden und Passionen nach immer variablen Kriterien hierarchisierte, eine analoge Hierarchie sich ihm in den über- oder unterweltlichen Bereichen erschloß; das Universum bevölkerte sich mit Gottheiten, aber mit Gottheiten des einen und des andern Geschlechts, mit Gottheiten also, die fähig waren, einander zu folgen, sich zu fliehen, sich zu vereinigen; so sah für einen Augenblick das erstaunliche Gleichgewicht der im Mythos erblühten Welt aus, in der dank der nach Geschlecht1 und Gattung vielfältig unterschiedenen Götterbilder weder »Bewußtsein« noch »Unbewußtsein«, weder »Außen« noch »Innen«, weder »dunkle Mächte« noch »Phantasmen« den Geist beschäftigten, da die Seele sich ganz und gar darin genügte, Bilder in einen Raum zu setzen, der sich von der Seele nicht unterschied. Wenn in dieser Beziehung der moralische Monotheismus die Herrschaft des Menschen über sich selber vollendet und die Natur dem Menschen dienstbar gemacht hat, indem er das anthropologische Phänomen der Wissenschaft erlaubte, so hat er doch, Nietzsche zufolge, ein tiefes Ungleichgewicht verursacht, das am Ende von zwei Jahrtausenden in nihilistischer Zerrüttung endet; daher auch die Entfremdung des Universums durch den Menschen, die Nietzsche in seiner Erforschung durch die Wissenschaft begründet sieht und mithin der Verlust dessen, was das der Metamorphose fähige Heimweh der Seele ausdrückt: Eros, der, so sagt Nietzsche, aus dem Menschen ein Tier macht, das anbetet. Der »Tod Gottes« erreicht nun den Eros der Seele und trifft den Trieb zur Verehrung an seiner Wurzel, diesen Trieb, der die Götter erzeugt, der für Nietzsche zugleich schöpferischer Wille und Wille zur Ewigkeit ist. Der »Tod Gottes« bedeutet in dieser Beziehung einen Bruch im Eros, der ihn seither in zwei gegensätzliche Strebungen spaltet: den Willen, sich selbst zu erschaffen, der immer mit Zerstörung einhergeht, und den Willen zur Verehrung, der nie ohne den Willen zur Ewigkeit auskommt.
Und sofern der Wille zur Macht nur ein andrer Begriff für die Gesamtheit dieser Strebungen ist und die universelle Fähigkeit zur Metamorphose begründet, findet er etwas wie seine Kompensation, wie seine Genesung in der Identifizierung mit Dionysos, diesem alten Gott des Polytheismus, der, bei Nietzsche, alle toten und wiederauferstandenen Götter darstellt und in sich vereinigt.
Zarathustra trägt der Dissoziation dieses zweierlei Wollens, dem des Schaffens und dem des Verehrens, Rechnung, wenn er die Schöpfung neuer Werte fordert; neuer Wahrheiten also, an die der Mensch nie zu glauben, denen er nie zu gehorchen vermöchte, sofern sie vom Siegel des Notstands und der Destruktion gezeichnet sind. Was ausschließt, daß der Wille zur Schöpfung neuer Werte das Bedürfnis nach Verehrung je befriedigen könnte, ist dies, daß dieses Bedürfnis dem Willen zur Ewigkeit des Selbst innewohnt. Ist der Mensch ein Tier, das anbetet, so vermag er doch allein das anzubeten, was ihm aus der Notwendigkeit zu sein zukommt – ihretwegen kann er nicht nicht sein wollen. Und so vermöchte er den Werten, die er selber frei erzeugt, weder zu glauben, noch zu gehorchen, wenn es sich in ihnen nicht um die Bilder seines Bedürfnisses nach Ewigkeit handelte. Daher bei Zarathustra der Wechsel zwischen dem Schaffenwollen in der Abwesenheit der Götter und der Anschauung des Tanzes der Götter, der das Universum auslegt. Erst als er verkündet, daß alle Götter tot sind, fordert Zarathustra, daß von nun an der Übermensch lebe, das heißt die Menschheit, die sich selbst zu überwinden versteht. Wie nun überwindet sie sich? Indem sie von allen Dingen, die schon gewesen sind, noch einmal will, daß sie, und zwar durch ihr eigenes Tun, wiederkehren: dies Tun definiert sich als Wille zur Schöpfung und Zarathustra erklärt Wenn es Götter gäbe, was