Redeflüssigkeit und Dolmetschqualität. Sylvi Rennert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sylvi Rennert
Издательство: Bookwire
Серия: Translationswissenschaft
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301158
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(der DolmetscherInnen) als auch jene der KundInnen (ZT-RezipientInnen und andere obengenannte KundInnengruppen) berücksichtigt werden sollten. Diese klaffen aber nicht nur, wie erwähnt, häufig weit auseinander; auch innerhalb dieser beiden Gruppen herrscht keine Einigkeit über die zu verwendenden Kriterien. Deshalb kann beim Dolmetschen auch bei der produktbezogenen Perspektive (Bruhn 2016: 29) nicht von tatsächlich objektiven Kriterien die Rede sein. Gleichzeitig stellen DolmetscherInnen oft in Frage, ob KundInnen Dolmetschqualität (dabei meist im Sinne von inhaltlicher Richtigkeit und AT-Treue verstanden) überhaupt beurteilen könnten. Dies spiegelt sich auch in der etwas polemischen Frage von Shlesinger (1997: 126) wider: „Do our clients know what’s good for them?“ Grbić weist darauf hin, dass KundInnenorientierung wichtig sei, warnt aber davor, den KundInnen zu viel zuzumuten oder sich an einer idealen KundIn zu orientieren (Grbić 2008: 248). Déjean Le Féal hingegen ist der Meinung, dass neben Zielen wie dem gleichen Inhalt und der gleichen kognitiven Wirkung (vgl. 2.1.2) auch solche NutzerInnenerwartungen, die DolmetscherInnen oft nicht so wichtig seien, erfüllt werden sollten, etwa eine angenehme Stimme oder das Vermeiden von Pausen in der Dolmetschung, die nicht im Original vorhanden sind und die von ZuhörerInnen als Informationsverlust interpretiert werden können: „Rightly or wrongly, they assume that any such silence reflects a loss of information.“ (Déjean Le Féal 1990: 155) Damit führt sie die DolmetscherInnenperspektive mit jener der RezipientInnen zusammen und stellt fest: „Although we may not share their views on the last point, we should take their wishes into account insofar as possible. Indeed, our ultimate goal must obviously be to satisfy our audience.“ (Déjean Le Féal 1990: 155)

      Der produktbezogene Qualitätsbegriff soll auch in der vorliegenden Arbeit verwendet werden, wobei hier „Produkt“ nicht im Sinne einer Aufnahme oder Transkription der Dolmetschung verstanden wird, sondern im Sinne des Ergebnisses, wie es weiter oben auch bei den KundInnenanforderungen dargestellt wurde. Für die vorliegende Arbeit wird „Verständlichkeit“ als Produkteigenschaft aufgefasst, die sowohl aus NutzerInnensicht als auch aus dolmetschwissenschaftlicher Sicht gefordert wird (vgl. 2.1.2). Verständlichkeit unterscheidet sich begrifflich vom Verstehensprozess als NutzerInnenleistung. Obwohl dieser produktbezogene Qualitätsbegriff nicht als objektiv angesehen werden kann, ist zumindest die Messung der kognitiven Wirkung möglich (vgl. 2.1.3). Die Produkteigenschaft der Verständlichkeit und inhaltlichen Richtigkeit wird auch von KundInnen gefordert, weshalb in diesem Fall der produktbezogene Qualitätsbegriff DienstleisterInnen- und KundInnenerwartungen in sich vereint. Im Gegensatz zu anderen Dienstleistungen ist es KundInnen bei Dolmetschungen üblicherweise nicht möglich, die gelieferte Leistung zu beurteilen, sondern es wird lediglich die wahrgenommene Leistung beurteilt. Daher soll hier statt des kundInnenbezogenen Qualitätsbegriffs von der subjektiven Bewertung bzw. Wahrnehmung durch die NutzerInnen gesprochen werden.

      Im nächsten Abschnitt soll nun die für diese Arbeit herangezogene produktbezogene Qualitätsdefinition erarbeitet werden, die dann im Experiment (ab Kapitel 4) gemeinsam mit der subjektiven Bewertung durch die KundInnen untersucht und mit ihr verglichen wird.

      2.1.2 Zur Definition des Qualitätsbegriffes

      Trotz der obengenannten Einschränkungen haben verschiedene PraktikerInnen und ForscherInnen den Versuch unternommen, Dolmetschqualität zu definieren. Einen Überblick über die verschiedenen Qualitätsansätze in Ausbildung, Praxis und Forschung bietet Grbić (2008). Alle hier zu besprechen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, daher soll in diesem Abschnitt eine kleine Auswahl der Ansätze vorgestellt werden und gezeigt werden, wie die für die vorliegende Arbeit verwendete Definition von Qualität als kognitive Wirkungsäquivalenz zustande kommt. Für eine ausführliche Darstellung des Qualitätsbegriffs im Allgemeinen und von Qualitätskonzepten in der Dolmetschwissenschaft im Speziellen sei an dieser Stelle auf Zwischenberger (2013) verwiesen.

      Geschichtlich hat sich die Qualitätsforschung im Bereich der Dolmetschwissenschaft von der rein textuellen Ebene, bei der Transkriptionen von Dolmetschungen auf von den ForscherInnen selbst bestimmte Fehlerkategorien hin untersucht wurden (Barik 1973, Gerver [1969]/2000), über die Erhebung von Erwartungen von DolmetscherInnen und NutzerInnen sowie Bewertungen von Dolmetschleistungen (z.B. Bühler 1986, Kurz 1989, 1993, Vuorikoski 1993, 1998; siehe 3.2.1) hin zu einer ganzheitlichen Betrachtung der Dolmetschung in ihrem jeweiligen situativen Kontext entwickelt (z.B. Kalina 2004, 2005, 2009, Pöchhacker 1994a, 1994b, 2001, 2012, 2013, Viezzi 1996, 1999). Ein großer Teil der Qualitätsstudien enthält dabei keine Definition von Qualität im engeren Sinne, sondern versucht sich über eine Reihe von Qualitätskriterien an den Begriff der Qualität heranzuarbeiten (vgl. Mack & Cattaruzza 1995: 37). Dies ist, wie Garzone (2003: 23) feststellt, vor allem auf die Komplexität der Materie und die daraus resultierende Schwierigkeit einer eindeutigen Definition zurückzuführen.

      Neben dem textbasierten Vergleich von AT und ZT wie bei Barik (1973) und Gerver ([1969]/2000) kommen in der Qualitätsforschung in der Dolmetschwissenschaft vor allem Erwartungserhebungen, Beurteilungen von Dolmetschungen durch verschiedene Zielgruppen sowie Messungen der Verständlichkeit des ZT zum Einsatz. Vor allem bei der Untersuchung lautsprachlicher Dolmetschungen sind Erwartungserhebungen und Bewertungen am häufigsten. Bei diesen wird meist eine Reihe von Qualitätskriterien verwendet. Dabei gibt es zwar Variationen in Umfang und Nomenklatur, allgemein herrscht aber Einigkeit darüber, dass neben der inhaltlichen Korrektheit und Vollständigkeit (Treue zum Original) verschiedene sprachliche (z.B. Terminologie, Stil, Präzision des Ausdrucks) und außersprachliche (z.B. Akzent, Intonation, Flüssigkeit) Faktoren eine Rolle spielen. (z.B. Bühler 1986, Kurz 1989, 1993, Moser 1995, Collados Aís et al. 2007, Zwischenberger 2013; für einen Forschungsüberblick siehe 3.2).

      Wie genau diese Kriterien zu definieren sind und wie sie zusammenwirken, wird allerdings selten näher ausgeführt. Häufig sind Studien zu finden, in denen Kriterien von verschiedenen NutzerInnengruppen oder auch DolmetscherInnen nach ihrer Wichtigkeit bewertet werden oder Dolmetschungen nach diesen Kriterien beurteilt werden. Grundsätzlich zeigt sich dabei, dass unterschiedliche Zielgruppen unterschiedliche Vorstellungen von Qualität haben. So sind DolmetscherInnen andere Aspekte wichtig als NutzerInnen, und auch unterschiedliche NutzerInnengruppen legen auf unterschiedliche Merkmale Wert. Hinzu kommt häufig eine Diskrepanz zwischen den Qualitätsmerkmalen, die bei a priori-Befragungen als wichtig bezeichnet werden, und jenen, die bei einer Bewertung einer tatsächlichen Dolmetschung als relevant empfunden werden. Dies liegt zum Teil daran, dass zumindest NutzerInnen wohl oft nur eine recht abstrakte Vorstellung davon haben, was ihnen bei einer Dolmetschung wichtig ist, und bei der Bewertung einer konkreten Dolmetschung oft auf ganz andere Faktoren Wert legen, kann teilweise aber auch darauf zurückzuführen sein, dass in den Befragungsbögen abstrakte oder schwer greifbare Begriffe wie „Qualität“ oder „Redeflüssigkeit“ nicht definiert werden und daher nicht sichergestellt werden kann, dass tatsächlich alle Befragten bei der Beantwortung von derselben Definition ausgehen (vgl. Collados Aís 2015: 337f.). Schließlich kommen mögliche unterbewusste Einflussfaktoren hinzu, z.B. der erste Eindruck der NutzerInnen, der Auswirkungen auf die Bewertung der Dolmetschung haben kann (vgl. García Becerra 2011), sodass z.B. eine unflüssige Dolmetschung womöglich als inhaltlich schlechter eingeschätzt wird als eine inhaltlich identische flüssige Dolmetschung (vgl. Garzone 2003). Auf diese und andere methodische Schwierigkeiten wird in 3.2.3 näher eingegangen.

      Trotz all dieser Einschränkungen lässt sich allerdings feststellen, dass sowohl DolmetscherInnen als auch RezipientInnen die Übereinstimmung des ZT mit dem AT als wichtigstes Merkmal betrachten. Dieses Merkmal wird wahlweise als „accuracy“, „fidelity“ oder auch „sense consistency with the original“ bezeichnet, grundsätzlich ist damit aber stets gemeint, dass der Zieltext den Ausgangstext möglichst getreu wiedergeben soll. Ebenfalls häufig genannt wird „clarity“, was sich eher auf die Kohärenz und Nachvollziehbarkeit des ZT bezieht (Pöchhacker 2001: 413). Merkmale, die sich auf die sprachliche Form, prosodische Elemente und außersprachliche Faktoren beziehen, werden im Vergleich zu den inhaltsbezogenen Merkmalen meist als weniger wichtig eingeordnet, unter diesen wird jedoch der Redeflüssigkeit meist die bei weitem höchste Wichtigkeit eingeräumt (vgl. Collados Aís 2015: 337, Pradas Macías 2015: 166).

      Neben der Literatur zu Qualitätsparametern gibt es auch eine Reihe von Qualitätsmodellen