Kultur- und Literaturwissenschaften. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Kompendium DaF/DaZ
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823301196
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munter hin- und herwechseln kann. Perspektivwechsel sind vielleicht wünschenswerte Kompetenzen, aber vom kognitiven Apparat schwer herzustellen. Es sei denn, man geht davon aus, dass der Lerner eine gespaltene Persönlichkeit haben muss. Daher verfahren viele didaktische Empfehlungen, viele Lehrpläne – die sich weltweit gerne auf interkulturell-hermeneutische Konzepte beziehen – sowie viele Handbuchartikel und andere Veröffentlichungen in Fachzeitschriften stark idealisierend und begrifflich unscharf mit der Thematik. Zudem hat die Lehrpraxis eher ablehnend auf diese Ansätze reagiert, weil sie zu weit von den „eigentlichen“ Themen des Sprachunterrichts abzulenken scheinen. Eine der wichtigsten Fragen bleibt jedoch bestehen: Wie kann man eigentlich Fremdes und Neues verstehen? Gibt es nur ein richtiges Verstehen, das ein Lerner rekonstruieren soll, oder wie viel Spielraum hat er?

       Lernziele

      In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

       die Grundlagen der interkulturellen Hermeneutik kennenlernen;

       die wichtigsten Anwendungen, Ansätze und Konzepte für den Sprachunterricht kennen und kritisch bewerten lernen;

       sich mit der Umsetzung anhand von konkreten Unterrichtsmaterialien und -beispielen vertraut machen;

       erkennen, warum weiterführende Ansätze für das (Fremd-)Verstehen so fundamental sind.

      1.3.1 Grundlagen der interkulturellen Hermeneutikinterkulturelle Hermeneutik in der Sprachvermittlung

      Als Referenzpunkt vieler interkulturell-hermeneutischer Modelle gilt der hermeneutische Ansatz von Gadamer, der selbst nicht explizit auf sprach- oder kulturkontrastive Aspekte des Verstehens eingeht, aber Hinweise auf Parallelen zwischen diachroner und synchroner Perspektive enthält.

      Das Beispiel des Übersetzers, der die Kluft der Sprachen zu überwinden hat, lässt die Wechselbeziehung besonders deutlich werden, die zwischen dem Interpreten und dem Text spielt und die der Wechselseitigkeit der Verständigung im Gespräch entspricht. Denn jeder Übersetzer ist Interpret. Die Fremdsprachlichkeit bedeutet nur einen gesteigerten Fall von hermeneutischer Schwierigkeit, das heißt von Fremdheit und Überwindung derselben. Fremd sind in dem gleichen, eindeutig bestimmten Sinne in Wahrheit alle ‚Gegenstände‘, mit denen es die traditionelle Hermeneutik zu tun hat. Die Nachbildungsaufgabe des Übersetzers ist nicht qualitativ, sondern nur graduell von der allgemeinen hermeneutischen Aufgabe verschieden, die jeder Text stellt. (Gadamer 1975 [1960]: 365)

      Diese linguakulturelle Aufgabe des Übersetzers illustriert Vermeer (1987) unter Verweis auf die Übersetzung von Dickens’ Satire auf das englische Bildungssystem, die im 19. Jahrhundert verfasst wurde. Um diese Satire verstehbar zu machen, bedürfe es einer im Grunde ähnlichen Übersetzung für britische Leser von heute und für solche, die des Englischen gar nicht mächtig seien. Die Unterscheidung der Zielgruppen liegt in der Unterscheidung von diachroner und synchroner Perspektive.

      Dickens’ bittere Satire auf das damalige englische Schulwesen ist dem heutigen Engländer (als Angehörigem einer ‚anderen‘ Kultur!) oft genug amüsante Lektüre; Dickens’ Gefühle kann er wohl kaum nachfühlen. (Vermeer 1987: 543)

      Das Muster des Übersetzens gilt als Grundlage der interkulturellen Hermeneutik. Sie basiert auf der Annahme, dass das Unbekannte / Fremde im Rahmen eines dialektischen Prozesses in Eigenes / Bekanntes überführt, also aufgelöst werden könne. Durch die Kontrastierung des Bekannten mit dem Neuen oder Fremden entstünden Austauschprozesse, die letztlich zum besseren oder „richtigen“ Verstehen führten. Die Gegenüberstellung öffnete damit den „fremden Blick auf das Eigene“ (Lévi-Strauss 1963).

      Da „eigene“ und „fremde“ Perspektiven grundsätzlich unvollständig sind und sich zur Vervollständigung ergänzen müssen, setzen interkulturell-hermeneutische Ansätze die kompensatorische, optimierende und maximierende Wirkung mangelnden Wissens voraus. Interkulturelle Kompetenzinterkulturelle Kompetenz ist im Sinne des Ausgleichs unterschiedlicher Wissensbestände daher auch als eine InkompetenzkompensationskompetenzInkompetenzkompensationskompetenz bezeichnet worden (Marquard 1995).

      Da die Distanz zum Fremden, die Fremdheit, nichts objektiv Gegebenes ist, sondern sich relativ zum Vorwissen des Betrachters und der Betrachterin beziehungsweise des Lerners verhält, basiert die angestrebte Horizontverschmelzung (fusion of horizons)Horizontverschmelzung (fusion of horizons) von fremder und etablierter Perspektive auf einer normativen Wirkung des vorhandenen Horizonts, der den Maßstab für die zu erwerbenden neuen Kompetenzen bildet.

      Mit dem folgenden Modell (aus Roche 2001: 51) lassen sich die in Bezug auf die Verstehbarkeit des Fremden idealisierten Grundprinzipien interkulturell-hermeneutischer Unterrichtsverfahren vereinfacht darstellen. Es geht davon aus, dass Fremdverstehen im Unterricht möglich, erwünscht und zielgerichtet ist.

      Abbildung 1.6: Prämissen erfolgreicher interkultureller Kommunikation; L1 = Erstsprache, L2 = Zweitsprache (Roche 2001: 48)

      Abbildung 1.7: Vereinfachtes Modell interkulturellen Verstehens im Sinne interkulturell-hermeneutischer Ansätze (Roche 2001: 51)

      Ein minimaler Code muss demnach im extremsten Falle außer einer Einigung über den Wert besseren Verstehens und einer grundlegenden Kommunikationsbereitschaft keine weiteren Bedingungen umfassen. Das trifft etwa auf Schülerinnen und Schüler zu, die sich auf Fremdsprachenunterricht einlassen, ohne in der Lage zu sein, eine Relevanz für die eigenen Interessen und Ziele darin zu erkennen. Die Bereitschaft, eine Sprache zu lernen oder mit Fremden zu kommunizieren, signalisiert ein (temporäres) Einverständnis mit den Minimalanforderungen interkultureller Kommunikation. Damit dieses idealisierte Modell funktionieren kann, bedarf es nicht nur eines fremdkulturellen Partners oder Partnerin, sondern auch eines Mediums, das die Bedeutung vermittelt, erkennbar macht oder die Beteiligten in die Lage versetzt, Bedeutung auszuhandeln. Dieses Medium ist in der Regel eine Sprache oder ein anderes Zeichensystem, das zum einen ein Minimum an vermeintlichen Gemeinsamkeiten (als Ausgangsbasis) aufweist, zum anderen sich aber auch für einen offenen Diskurs eignet.

      Diese kommunikativen Prämissen sind im Unterricht – und im Alltag – jedoch in Wirklichkeit oft nicht gegeben: Erstens will nicht jeder, der einer fremden Kultur begegnet, sie auch verstehen (lernen), und nicht jeder Lerner, der Fremdsprachenunterricht erhält, hat tatsächlich ein Interesse am Erlernen der fremden, und am besseren Verstehen, seiner eigenen Sprache. Auch will nicht jede „Kultur“ von außen verstanden werden (Ihekweazu 1987; Zimmermann 1991). Im Gegenteil, manche Kulturen verweigern Fremden den Zugang oder verlangen eine Autorisierung des Verstehens durch die „Besitzer“ dieser Kultur (zum Beispiel indigene Kulturen in Nordamerika). Zweitens ist eine möglichst große Korrespondenz zwischen den Zeichensystemen anzustreben zwar das idealisierte Ziel der gängigen interkulturell-hermeneutischen Verfahren, aber wie aufwändig das in der Praxis ist, zeigt die Translationstheorie bei der Herstellung funktionaler Äquivalenzen zwischen Sprachen und bei der Abstimmung von Funktion und Form in Übersetzungen deutlich auf. Gründe für die Schwierigkeiten sind nicht nur die mangelnden interkulturellen Korrespondenzen, sondern auch die große intra-sprachliche Variationsbreite aufgrund von diatopischen, diastratischen, diaphasischen, medialen und anderen Variablen. Vergleiche hierzu die Ansätze der interkulturellen Germanistik bei Wierlacher (1987) und Thum (1993), kritisch dazu etwa die Beiträge von Fan (1999) und Webber (1990), sowie die kritische Würdigung der Entwicklungen in der interkulturellen Hermeneutik in dem Beitrag von Fäcke (2006).

      Da sich die kommunikativen Prämissen wegen ihrer Komplexität und Zirkularität nicht so leicht einlösen lassen, ist verschiedentlich versucht worden, über die Definition universeller Minimalinventarien von Kommunikationsprinzipien die Grundlagen für erfolgreiche Kommunikation zu etablieren. Zu diesen gehören etwa die Kommunikationsmaximen von Grice (1975) oder das Kommunikationsmodell von Ruben (1987). Bei