Er nimmt die Einladung seines Landsmannes Pierre Louis Moreau de Maupertuis (1698–1759) aus St. Malo, der Präsident (1746–1759) der Königlichen Akademie der Wissenschaften (Académie Royale des Sciences et Belles-Lettres) in Berlin ist,4 an und begibt sich auf dessen Vermittlung hin an den Hof Friedrich II. von Preußen (geb. 1712; Kg. 1740–1786) nach Potsdam. Von 1748 bis zu seinem Tod 1751 bleibt er am Hofe Friedrichs, wird dessen Arzt, Gesellschafter und Vorleser sowie Mitglied der Akademie und verfasst weitere philosophische und polemische Schriften: u.a. L’homme plante (1748), Discours sur le bonheur (1748) als Einleitung einer Seneca-Übersetzung (Anti-Sénèque) getarnt, Les animaux plus que machines (1750), L’art de jouir ou l’école de la volupté (1751), Le petit homme à longue queue (1751), Œuvres philosophiques (1750, vorausdatiert auf 1751). Die Radikalität seiner Schriften, insbesondere des Anti-Sénèque, in Bezug aufReligion (Atheismus), Moral (sexuelle Freizügigkeit) und Politik (Herrscherkritik) bringen Friedrich dazu, 1749 die von ihm im Sinne der Aufklärung abgeschaffte Zensur wieder einzuführen (Edict wegen der wieder hergestellten Censur); er wirft 10 Exemplare des letztgenannten Werkes La Mettries eigenhändig ins Feuer (cf. Laska 2004:XIII), hält aber persönlich weiterhin an ihm fest.5 Im Jahre 1751 stirbt La Mettrie, wohl an einer verdorbenen Fleischpastete.6 Friedrich II. hält trotz der Differenzen, die er mit La Mettrie hatte, anläßlich seines Todes eine konziliante Lobrede (Eloge de La Mettrie, 1752), in der er ihn als honnête homme, âme pure, eloquenten und unterhaltsamen Zeitgenossen sowie als savant médecin würdigt, weniger jedoch als Philosophen (cf. Christensen 1996:255–268; Mensching 2008:509).7
3 Philosophische und geistesgeschichtliche Verortung
Um La Mettries philosophische Haltung zu verstehen, ist es zunächst vonnöten seine Stellung innerhalb der medizinischen Wissenschaften zu betrachten, die die Basis für seine späteren radikalen Ansichten darstellt.
Sein medizinischer Lehrer Herman Boerhaave, dem er nach eigenen Aussagen seinen eigentlichen Erkenntnisfortschritt in der Kunst der Medizin verdankte – d.h. implizit nicht dem medizinischen Studium in Frankreich – und dessen Werke er ins Französische übersetzte, stand der iatrophysikalischen Lehre nahe. Diese hängt mit der Entdeckung des Blutkreislaufes zusammen und versucht die physischen Vorgänge des menschlichen Körpers zu messen und physikalisch zu erklären, d.h. der lebendige Körper wird als eine Konstruktion wahrgenommen, welche auf mechanischen Abläufen beruht, eben als eine Maschine. Ähnlich wie auch die Iatrochemie, die die Funktionen des Körpers durch die in ihm ablaufenden chemischen Vorgänge zu erklären versucht, handelt es dabei um einen materialistischen Erklärungsansatz. Dabei ist ‚materialistisch‘ hier so zu verstehen, dass man sich ausschließlich auf diemessbaren Veränderungen des Körpers stützt; Ursachen und erste Prinzipien werden hingegen unberücksichtigt gelassen (cf. Christensen 1996:21).
Von Boerhaave übernimmt La Mettrie nicht nur die materialistische iatrophysikalische Grundhaltung, sondern auch seinen Eklektizismus und die Ablehnung eines alles erklärenden einheitlichen Systems. Hier stehen sowohl Boerhaave als auch später La Mettrie im Gegensatz zu René Descartes (1596–1650), der seine Philosophie auf grundlegenden Prinzipien aufbaut. La Mettrie folgte Boerhaave auch dahingehend, dass dieser die Medizin als eine fachübergreifende Disziplin betrachtete und neben der Klinischen Medizin auch Botanik und Chemie unterrichtete sowie die Praxis der Anwendung am Patienten selbst und dabei auch chirurgische und anatomische Kenntnisse erwartete. Gerade letzteres ist zu jener Zeit nicht selbstverständlich, da die Praktiker der Chirurgie und die Theoretiker der Medizin sich oft feindlich gegenüberstanden, da letztere die Deutungshoheit beanspruchten (cf. Christensen 1996:21–22).
La Mettrie geht aus diesem Studium in Leiden als jemand hervor, den man heutzutage als open-minded bezeichnen würde, was sich allein daran zeigt, dass er zum einen auf Französisch publiziert und sich damit vom elitären und hermetischen Latein seiner Kollegen bewusst absetzt und seine ersten medizinischen Arbeiten der allgemeinen Verbesserung des öffentlichen Gesundheitswesens und der medizinischen Aufklärung widmet (Le bien public); Adressaten waren dabei neben den medizinischen Kollegen auch Chirurgen und interessierte Laien: Lettres sur l’art de conserver la santé et de prolonger la vie (1734), Dissertation sur les maladies vénériennes (1735), Dissertation sur l’origine, la nature et la cure de ces maladies (1735) [Einl. zur Übersetzung v. Systéme de M. Hermann Boerhaave sur les maladies vénériennes], Traité du vertige (1737), Traité de la petite vérole (1740), Observations de médecine pratique (1743) (cf. Christensen 1996:22–24).
Zum anderen greift er auch in den in Frankreich tobenden Kampf zwischen Medizinern und Chirurgen ein (Höhepunkt 1724–1743), in dem es um die traditionelle Vormachtsstellung der Mediziner geht, die von den Chirurgen zunehmend in Frage gestellt wird. Er kritisiert dabei beide Seiten und plädiert im Gefolge von Boerhaave für ein Ineinandergreifen beider Wissensbestände.1 Dies kommt sowohl in seinen medizinischen Schriften zum Ausdruck, als auch konkret in Pamphleten (z.B. Saint Cosme vengée, 1744) und Satiren (z.B. La faculté vengée, 1747; Le chirurgien converti, 1748), in denen er die Hybris der Mediziner, die Eifersucht und Autonomieforderung der Chirurgen und die Zustände im Gesundheitswesen anprangert. Er plädiert vielmehr für eine stärkere Ausrichtung der Medizin an der Empirie, zugleich aber für die Stärkung der Grundlagenforschung; er kritisiert zudem die Trennung von Theorie und Praxis; d.h. Voraussetzung für einen guten Mediziner nach la Mettrie sind neben der eigenen Forschung und Beobachtung breite Kenntnisse in Anatomie, Botanik, Chemie, Physik, Mechanik und Chirurgie. Wichtig ist ihm dabei nicht so sehr die Suche nach den verborgenen Ursachen (causes cachées), sondern nach den mit Vernunft und Experiment fassbaren sekundären Ursachen (causes secondes) und die methodische Offenheit: „le meilleur système est de n’en point avoir“ (La Mettrie 1743:IV, o.pagin.) (cf. Christensen 1996:24–39).
Dieser medizingeschichtliche Hintergrund bildet die Grundlage des sich daraus entwickelnden philosophischen Gedankengebäudes La Mettries. Die wichtigsten Erkenntnisse fließen dabei in sein weiteres philosophisches Œuvre ein, und zwar vor allem die Systemoffenheit, die Betonung der Empirie und das materialistische Weltbild.
Bereits in seiner ersten rein philosophischen Schrift, der Histoire naturelle de l’âme (1745) – überarbeitet als Traité de l’âme in den Œuvres philosophiques (1751) – zeigen sich wesentliche Bestandteile seiner Denkrichtung. Dabei versteht er die im Titel des Werkes genannte Naturgeschichte als eine Naturbeschreibung, ganz im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), der historia ebenfalls als observatio verstand. Grundlage der wissenschaftlichen Betrachtung ist bei La Mettrie demnach die Empirie, d.h. die auf Beobachtung begründete Erfahrung, so wie sie vor allem John Locke (1632–1704) in seinem Essay Concerning Human Understanding (1689) vertritt, der zwar auch ins Französische übersetzt wurde (1700 v. Pierre Coste), aber in erster Linie durch die Lettres philosophiques (1733) Voltaires2 (1694–1778) Verbreitung fand (cf. Becker 1990:IX; Christensen 1996:40–43; Klingen-Protti 2016:138).
La Mettries Kritik in seiner Histoire naturelle, in der er versucht ein naturwissenschaftliches Verfahren auf die Geisteswissenschaften zu übertragen, zielt auf den Rationalismus und die Metaphysik als Grundlage der Wissenschaften, wie sie bei Descartes formuliert ist. Er plädiert für einen philosophischen Neuanfang bei der die empirischen Naturwissenschaften, allen voran die Medizin, die Basis aller Wissenschaften bilden sollten. Dabei entwickelt La Mettrie einen an Locke orientierten Sensualismus, eine théorie de sensation, und zwar bereits ein Jahr vor Étienne Bonnot de Condillac (1714–1780) und seinem Essai sur l’origine des connoissances humaines (1746) und lange vor dessen Traité des sensations