"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!". Heinrich Lienhard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Lienhard
Издательство: Bookwire
Серия: Das volkskundliche Taschenbuch
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783857919183
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starken Pferden gezogen wurden. Lienhard und Aebli waren der Ansicht, dass die beiden Wagen überladen seien, besonders nachdem sich ihnen vor Basel noch eine Gruppe von etwa zehn Berner Emigranten angeschlossen hatte.

      Am 31. August passierten sie die Grenze bei St. Louis, danach ging die Reise langsam, aber stetig in nordwestlicher Richtung quer durch Frankreich: «Nancy ist eine schöne Stadt in einer herrlichen, mit Wein bebauten Gegend noch im Lotringischen. Wir hielten uns aber nur so lange auf, als nöthig war, das Mittagessen einzunehmen. Chalons ist eine grosse und schöne Stadt, Paris liessen wir zu unserer Linken ligen. Rouen erreichten wir Nachmittags zirca um Vieruhr; es nahm uns zwei volle Stunden, bis wier diese Stadt passiert hatten. Nachher bezogen wir wieder in einem grossen Pferdestall unser Nachtquartier86. Rouen ligt an der Seine, es kommen schon kleinere Seeschiffe bis dahin. Die Landung sieht einem Seehaven ähnlich, und man riecht schon den Teer, sieht grosse Taue, Anker, Matrosen – überhaupt war da viel Leben und geschäftiges Treiben.»87 Lienhard gehörte zu den jungen Leuten, die bei dem fast ausnahmslos schönen Sommerwetter einen guten Teil der Strecke zu Fuss zurücklegten, und wenigstens darin sah er einen Vorteil gegenüber der Beförderung mit der Postkutsche: «Auf diese Art, wie wir reisten, hatten wir natürlich gute Gelegenheit, Frankreich, soweit wir kamen, besser zu besehen, und ich war entzükt über die grössten Theils schönen, gutbebauten, fruchtbaren Gegenden.»88

      Nach zweiwöchiger Reise näherten sie sich ihrem ersten grossen Etappenziel: «Sonntag, den 14. Sept. kamen wir plötzlich auf einer Anhöhe an, von wo aus wir zum Erstenmahl das Meer erblickten. Es war eine prächtige Aussicht, die See glänzte wie ein Silberspiegel und erweckte in uns Gefühle eigener Art.»89 Wenig später erreichten sie die Stadt Le Havre. Als sie dort beim letzten Essen mit Rufli in einem Gasthaus sassen, trat ein Mann auf sie zu und erkundigte sich, ob es unter ihnen Glarner gebe. Er stellte sich selbst als Glarner namens Legler vor und anerbot sich, Leuten aus seinem Heimatkanton bis zur Abfahrt des Schiffes zu helfen, da er sich in Le Havre gut auskenne und einige Tage Zeit habe. Aebli und Lienhard nahmen das Angebot dankbar an und trennten sich von der Rufli-Gruppe.

      Legler brachte sie zuerst in einem besseren Gasthof unter und begleitete sie in den folgenden Tagen bei ihren Besorgungen. Als Erstes kauften sie sich ihre Schiffspassage auf dem amerikanischen Segelschiff «Narragansett»90. Dann besorgten sie sich das noch fehlende Geschirr und Bettzeug sowie zusätzliche Essensvorräte für die mehrwöchige Seereise. Am 18. September mussten sich die Schiffspassagiere an Bord einfinden, und in Lienhards Pass vermerkte der Commissaire de Police Délégué neben dem Polizeistempel: «Vue pour La Nouvelle Orléans sur Le Navire Le Narraganset. Havre Le 18 Sep. 1843.»

      Die Wahl des neuen, dreimastigen Segelschiffes sollte sich als Glücksfall erweisen, strenge Regeln an Bord sorgten für Ordnung und Hygiene und machten den Schiffsalltag auch für die gut achtzig Passagiere des Zwischendecks erträglich. Mehr als fünfzig von ihnen waren Schweizer, denn auch Rufli hatte für seine Gruppe Passage auf der «Narragansett» gebucht. Am 20. September meldete das Journal du Havre, die «Narragansett» habe den Zoll passiert und stehe kurz vor dem Auslaufen. Am folgenden Tag ist das Schiff auf der Liste der «sorties» aufgeführt.91

      Auf offener See wurden Aebli und Lienhard wie die meisten Mitreisenden zuerst seekrank. Danach verlief die Reise ohne Zwischenfälle – mit einer Ausnahme, und diese hätte für Heinrich Lienhard ein böses Ende nehmen können. Aebli und er wollten sich eines Tages mittels einer Pumpe, die ausserhalb des Schiffbugs befestigt war, mit Meerwasser waschen. Lienhard stieg als Erster hinunter, stellte sich unter die Pumpenröhre und hielt sich mit der linken Hand an einem Tau fest; dann rief er Aebli zu, langsam mit Pumpen zu beginnen. Da stürzte das Wasser mit solcher Wucht auf ihn nieder, dass er vor Schreck seinen Halt fahren liess und nur noch reflexartig mit der andern Hand das Tau wieder packen konnte. Es stellte sich heraus, dass oben ein irischer Matrose Aebli von der Pumpe weggedrängt hatte, um diese sogleich mit aller Kraft selbst zu betätigen. Der Schock blieb Lienhard zeitlebens in Erinnerung: «Die See war allerdings ganz ruhig und fast spiegelglat, aber da ich nicht Schwimmen konnte, weiss ich doch nicht, wie es mir ergangen, wäre ich hinab gestürzt.»92

      Als sie sich nach der Atlantiküberquerung der Karibik näherten, griff der Kapitän immer öfter zum Fernrohr, und eines Tages ertönte endlich der Ruf: «Land in Sicht!» Langsam tauchte am Horizont die östliche Spitze der Insel Hispaniola auf, doch zu Lienhards Bedauern passierten sie diese in grosser Entfernung. Heinrich Lienhard war von der ersten Seereise an ein begeisterter Schiffspassagier. Bei all seinen Schiffsreisen zählte er am Morgen stets zu den Ersten, die an der Reling standen, und abends zu den Letzten, die ihre Schlafstelle aufsuchten. Und wenn der Mond hell genug schien, verbrachte er, in eine Wolldecke gehüllt, oft die ganze Nacht auf Deck, um nichts zu verpassen. Er liebte es, im Vorbeiziehen die Küsten und Inseln zu betrachten, und immer wieder beobachtete er fasziniert die vielen Tiere in Luft und Wasser, die in der Nähe von Land das Schiff lange begleiteten.

      Im Golf von Mexiko erwartete sie stürmisches Wetter. Während mehrerer Tage lavierte die «Narragansett» in den Wellen, und der Kapitän bemühte sich, nicht zu weit nach Westen zu geraten, wo nach seinen Worten Gefahr bestand, auf eine Sandbank aufzulaufen. Als sich die See endlich beruhigte und das Wasser seine dunkle Farbe verlor, dauerte es nicht lange, bis sich ihnen ein kleines Lotsendampfboot näherte. Die Besatzung der «Narragansett» zog die Segel ein, befestigte ein dickes Tau an der «Black Star», und diese schleppte nun das grosse, dreimastige Segelschiff zur Mündung des Mississippi River. Dort kam ein Arzt an Bord, der die Gesundheitskontrolle vornahm. Auf der «Narragansett» musste er weder Kranke noch Tote registrieren, sondern konnte sogar einen zusätzlichen Passagier verzeichnen: Während der Umrundung der Ostspitze Kubas (Kap Antonio) war nämlich ein kleiner Antonio zur Welt gekommen, Sohn eines jungen Paares aus dem süddeutschen Baden. Somit hatte die Seereise nach 47 Tagen ein glückliches Ende gefunden, und nach einer weiteren Schleppfahrt mit der «Black Star» erreichten sie zwei Tage später den Hafen von New Orleans.93

      Während fast alle Franzosen in New Orleans zurückblieben, hielten sich die Schweizer und Deutschen nur kurz in der Stadt auf, um sich dann an Bord des Dampfers «Meridian» zu begeben. Zehn Tage dauerte die Fahrt flussaufwärts bis nach St. Louis, Missouri. Um von hier nach Neu-Schweizerland zu gelangen, setzte man mit einer Fähre auf die Illinois-Seite des Mississippi über, danach blieben noch knapp dreissig Meilen94 zu Fuss oder mit einem privaten Fuhrwerk landeinwärts zu bewältigen. Reisende nach Highland warteten in St. Louis mit Vorteil im «Switzerland Boarding House», wo Farmer von Highland jeweils vorbeischauten, wenn sie ihre Produkte nach St. Louis brachten. Es dauerte denn auch nicht lange, bis zwei Schweizer aus der Siedlung erschienen und sich bereit erklärten, die neu eingetroffenen Landsleute und ihre schweren Koffer mitzunehmen.

      Da sie die Strecke nach Highland in zwei Etappen zurücklegen wollten, machten sie gegen Abend Halt in einem Wäldchen. Sie bereiteten sich auf eine ungemütliche Nacht vor, denn im Wagen gab es keinen Platz zum Schlafen, der Erdboden war feucht, und es fing auch noch zu regnen an. Sie holten ihre Regenschirme hervor und versuchten, sich an einem Feuer zu wärmen, wobei einer der Farmer namens Buchmann einen Krug mit Whisky zirkulieren liess. Dann begann er von den Männern, Frauen und Kindern zu erzählen, die auf ihrer langen Reise über den amerikanischen Kontinent während Monaten noch viel härtere Strapazen auf sich nahmen, um im Fernen Westen eine neue Heimat zu suchen: «Er erzählte mir, wie die Emigranten über die Ebenen und Felsengebirge nach Oregon und Californien fünf bis sechs Monate lang mit Ochsen- und Mauleselfuhrwerken auskampieren müssten, wie sie sich mit Lebensmittel, Zelten, Gewehren und Waffen versahen, wie sie verschiedenen Indianern begegneten, von den Buffalos, Antilopen, Hirschen u.s.f. Er sagte, dass schon seid zwei bis drei Jahren im Frühjahr sich Leute in wo möglich grössern Gesellschaften zusammen fänden, und noch mehr verschiedene Einzelnheiten über jene geheimnissvollen Regionen.»95

      Farmer Buchmann hätte sich keinen aufmerksameren Zuhörer wünschen können als Heinrich Lienhard. Das Wort»California» muss diesen wie ein Blitz getroffen haben, denn es liess ihn in den folgenden Jahren nicht mehr los. «Ich war also noch nicht an dem Endziele meiner Reise angekommen», erinnert er sich, «und doch empfand ich bereits Lust, vielleicht bald eben dieselbe Reise zu wagen.»96