"Wenn Du absolut nach Amerika willst, so gehe in Gottesnamen!". Heinrich Lienhard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Heinrich Lienhard
Издательство: Bookwire
Серия: Das volkskundliche Taschenbuch
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783857919183
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würden.»28

      Ganz so hoffnungslos war seine Lage jedoch nicht, denn ein anderer junger Mann in der Familie hatte dieselbe Idee bereits in die Tat umgesetzt: Heinrich Schindler aus Mollis, ein Cousin zweiten Grades, war Anfang Dreissigerjahre in die USA ausgewandert. Mochten die Umstände, unter denen er seine Heimat verlassen hatte, auch nicht die glücklichsten gewesen sein,29 so las Heinrich dennoch fasziniert seine Briefe und fasste bereits damals heimlich den Entschluss, später ebenfalls nach Amerika zu reisen. Drei Jahre nach Heinrich Schindler erfüllten sich auch zwei Cousins, je ein Sohn zweier Brüder des Vaters, diesen Traum, und es ging ihnen gut in den USA.30 Ihre Nachrichten hielten Heinrichs Fernweh wach und bestärkten ihn in seinem Gefühl, das Leben werde auch ihm mehr zu bieten haben als nur harte Arbeit und eine bescheidene Existenz auf dem Ussbühl.

      Lienhards Erinnerungen an die Jahre nach der Konfirmation zeigen, dass er sich sehr wohl mit der Landwirtschaft verbunden fühlte, dass ihm aber die herkömmliche Art und Weise, wie der Vater sie betrieb, wenig Anreiz bot: «Mein Vater […] hielt durchaus nichts auf Neuerungen, sondern liess alles beim Alten, mochte es zweckmässig sein oder nicht. Denn so hatte er eine Sache betrieben, ebenso sein Vater und noch gar viele andere Leute, und diese waren doch auch keine Narren. Diese Neuerungen taugen wenig oder nichts; recht tüchtig drauflos arbeiten, das war die rechte Art, damit kann man nur sein Leben machen. […] Dass der Mensch, der doch von Gott mit gesunder Vernunft erschaffen ist, diese zu seinem und seiner Mitmenschen Vortheil und Verbesserung der Lage nach besten Kräften und Vermögen verwenden sollte, scheint mein Vater nicht recht begriffen zu haben.»31

      Heinrich wollte Neues lernen und moderne Methoden ausprobieren. Ein Zeichen in dieser Richtung setzte er im Juli 1841, als er an einem Sonntagmorgen um vier Uhr aufstand und nach Glarus marschierte, um sich dort ein Buch über Landwirtschaft zu kaufen.32 Den Kopf voll neuer Ideen, kehrte er nach Hause zurück, und «Simon Strüf» weckte nicht nur seine lebenslange Leidenschaft für den Obstbau, sondern sollte ihn später auch nach Amerika begleiten und ihm dort gute Dienste leisten: «Ich war jetzt der glückliche Besitzer eines guten und nützlichen Buches, und ich benutzte jeden Moment, um daraus zu lesen und zu lernen, denn es handelte über fast jeden Zweig der Landwirthschaft. Gar viel war über Obstbauzucht daraus zu lernen. Ich lernte daraus Okuliren, auch einige Pfropf- und Kopulirmethoden. Im Herbst gieng ich an das Putzen unserer alten Greise von Fruchtbäumen. Alles Moos und überflüssige alte Rinde musste herunter, und die überflüssigen alten, zum Theil drockenen Äste wurden ebenfalls heruntergesägt. Wenn wier junge Bäume pflantzten, machte ich die Gruben vier Fuss Durchmesser und zwei Tiefe, legte die obere, bessere Erde auf eine und die untere, schlechtere auf die andere Seite der Grube. War der Grund schlecht, so suchte ich diesen durch Bessern theils zu ersetzen, machte mit dem bessern Grund einen Hügel in der Mitte der Grube und setzte den zu pflantzenden Baum auf denselben. Den Wurzeln des jungen Baumes gab ich so viel als möglich die Form eines Rades, füllte die beste und feinste Erde zwischen dieselben, pflanzte um so tiefer, als sie früher gestanden, gab ein gerader Pfahl, füllte auch die schlechtere Erde in die äussern Seiten der Grube, so dass der äussere, schlechtere Grund den innern, bessern um einige Zoll überragte. Waren die Wurzeln dann mit Grund ein wenig bedeckt, goss ich langsam mit einer Giesskanne ringsherum so lange Wasser, bis der feinere und bessere Grund sich zwischen den Wurzeln hinein gesenkt und sich an dieselben angelegt hatte. Kamen einzelne der Wurzeln dadurch wieder zum Vorschein, wurden diese abermahl mit feinem, gutem Grunde gedekt, dann wieder begossen und endlich noch Einmahl mit feiner Erde bedekt. Dann wurde der Baum an den Pfahl gebunden, der Grund während des Sommers locker und rein vom Unkraut gehalten, und ich war stehts sicher, dass gesunde, junge, auf diese Art behandelte Bäume kräftig wuchsen.»33

      An abendlichen Freizeitvergnügen für Jugendliche bestand damals nach Lienhards Worten kein grosses Angebot. Die jungen Männer spazierten durch die Dorfgassen, unterhielten sich mit Streichen oder inszenierten Raufereien. Heinrich ging einige Male mit, langweilte sich aber bald und zog es dann vor, zu Hause zu bleiben. Daran vermochte auch der junge Nachbar nichts zu ändern, der ihn eines Tages warnte, er werde auf diese Weise bald als Sonderling angesehen und es heisse bereits jetzt von ihm, er sei «ein Kerl wie ein alter Mann»34. Abwechslung fand er unter anderem beim Musizieren. Der ältere Bruder hatte ein Jahr vor Heinrichs Konfirmation geheiratet,35 und seine junge Frau besass eine Zither. «Dieses Instrument verstand sie ordentlich zu spielen, und bald spielte sie meine Schwester auch, doch beide konnten die Zitter nicht richtig stimmen, welches ich aber für sie that, nachdem sie mir gezeigt, wie es zu thun sei. Natürlich fing ich dann auch bald an selbst zu spielen und überholte damit in kurzer Zeit sowohl meine Schwägerin als meine Schwester; und diese Zitter vertrieb mir denn auch einen grossen Theil von meiner langen Weile.»36

      An Sonntagen unternahm er gerne Wanderungen entlang der Linth oder in den Glarner Alpen: «Ich hatte ein besonderes Verlangen, etwas Neues zu sehen, aber neue Landschaftsbilder, von denen es in den heimatlichen Bergen so viele gibt, hatten einen besondern Reiz für mich.»37 Regentage verbrachte er wenn möglich in der Werkstatt, wo er sich am liebsten mit Holzarbeiten beschäftigte. Er reparierte alte Geräte und bastelte Neues, überlegte und tüftelte, bis das Gewünschte – von der Mausefalle über den Hornschlitten bis zum Drechselstuhl – Form annahm und funktionierte. Als eines Tages die Treppe vom Wohnzimmer in den Keller für unsicher erklärt wurde, anerbot er sich, eine neue zu zimmern, wenn der Vater ihm dazu die nötige Zeit in der Werkstatt gebe. Nachdem Heinrich die Arbeit beendet hatte, trugen sie die Treppe gemeinsam in den Keller, «aber Oh weh – sie stand ein klein wenig schief, welches mich so ärgerte, dass ich augenblicklich sie mit der Axt38 in Stücker schlagen wollte. Aber mein Vater gebot mir, dass ich mich dessen nicht unterstehe, denn die Treppe sei ganz gut, und das bisschen Schiefsein hätte nichts zu bedeuten. Zirca 8 bis 10 Jahre späther, als ich wieder einmahl aus Amerika zurück kam, vertrat die Treppe noch immer gute Dienste.»39

      Als Heinrich siebzehn Jahre alt war, beteiligte er sich an den freiwilligen Exerzierübungen, die Oberst Schindler für angehende Rekruten in Bilten durchführte. Im Jahr darauf, 1840, nahm er erstmals an den militärischen Vorübungen in Oberurnen teil, die jeder Rekrut zu absolvieren hatte, und zwar während dreier Jahre jeweils eine Woche im April. Er absolvierte diese Ausbildung mit Begeisterung: «Für mich waren diese militärischen Vorübungen ein grosses Vergnügen, und ich glaube kaum, dass irgend einer auf dem Platz zu finden gewesen wäre, der mehr Vergnügen an unsern Übungen empfunden hätte als ich. Ich lernte dabei recht ordentlich, und ich kann dreist sagen, ohne zu prahlen, dass ich im letzten Jahr einer von den am weitesten Vorangeschrittenen war. Ich hatte mehr als Einmahl Schwenkungen komandirt und ausgeführt, welche einer unserer jungen Instrukteure vergebens auszuführen versuchte. Solches konnte natürlich nur geschehen, wenn der Major nicht zugegen war, indem es sonst unserm jungen Instruktör als solchem hätte schaden können. Dieses waren meine glücklichsten Tage in meiner alten Heimath, welche aber leider nur zu schnell vorüber gehend waren.»40

      Die Beziehung zum älteren Bruder blieb auch in den Jahren nach der Konfirmation gespannt, umso mehr, als Peter nach dem frühen Tod seiner Frau ins Elternhaus zurückgekehrt war. Zum einen gestaltete der grosse Altersunterschied von gut neun Jahren das Verhältnis zwischen den Brüdern schwierig, zum anderen scheinen sie auch in ihrer Art sehr verschieden gewesen zu sein; dies jedenfalls lassen einige Episoden vermuten, die Lienhard offensichtlich tief gekränkt hatten. Am meisten litt Heinrich, wie schon als Kind, unter der Parteilichkeit des Vaters, der bei Streitigkeiten, ohne nachzufragen, stets dem Älteren Glauben schenkte und die Rivalität der Brüder dadurch noch verstärkte. In dieser ungerechten Behandlung des Vaters liegt wohl auch Lienhards spätere Art begründet, bei einem Streit – ob selbst involviert oder nur um seine Meinung gebeten – den Hergang des Geschehens immer genau zu rekonstruieren beziehungsweise sich erzählen zu lassen, wenn nötig auch zweimal.

      Als Erwachsener konnte sich Lienhard das Verhalten seines Vaters mit dessen eigener, besonders harten Jugend erklären. Kaspar Lienhard verlor als Ältester von fünf Geschwistern mit dreizehn Jahren seine Mutter,41 und der Vater, der dem Kartenspiel verfallen war, sorgte mehr schlecht als recht für seine Kinder. «Daher kam es denn wohl auch», glaubt Lienhard, «dass unser Vater, da [er] eine freudlose Jugend durchgemacht,42 selbst keinen richtigen Begriff von einem gutgeordneten