Gleiches gilt für die im Juni 2010 von Greenpeace vorgelegte Studie »energy (r)evolution«[18]. Sie nimmt bis 2050 einen Weltbedarf von jährlich 13,2 TW an, der zu 95 Prozent von erneuerbaren Energien gedeckt würde. Der größte Beitrag unter den erneuerbaren Energien wird der Windkraft (24,7Prozent) zugerechnet, gefolgt von solarthermischen Kraftwerken (20,5 Prozent), photovoltaisch erzeugtem Strom (15 Prozent), Wasserkraft (11,6 Prozent), geothermischer Energie (9,7), Meeresenergie (4,4 Prozent) und Bioenergie (4,2 Prozent). Als Maßnahmen empfiehlt die Greenpeace-Studie Einspeisegesetze, die flexiblen Instrumente des Emissionshandels und die Beendigung der Energiesubventionen für fossile Energien und Atomenergie.
Man darf keines der Szenarien wörtlich nehmen, als würde oder könnte es so wie beschrieben – also 1: 1 – realisiert werden. Die Prognostizierung der jeweiligen Prozentanteile erneuerbarer Energien, teilweise bis auf Ziffern nach dem Komma und über Zeiträume von mehreren Jahrzehnten hinweg, ist weder möglich noch nötig. Niemand kann die Kostenentwicklung, geschweige denn die Preisentwicklung der jeweiligen Technologien über so lange Zeiträume voraussagen, weil man deren Produktivitätskurve und Technologiesprünge und vor allem die potenziellen Akteure und ihre Motive nicht kennen kann. Niemand kann Investorenmotive nur nach technischen oder Kostenaspekten bewerten. Und niemand kann politische Entwicklungen voraussagen, die den Wechsel zu erneuerbaren Energien begünstigen oder erschweren, in eine dezentrale oder in eine zentralisierte Richtung lenken. Ebenso wenig liefern Szenarien Hilfestellung, wie Widerstände überwunden und Widersprüche zwischen verschiedenen Handlungsempfehlungen vermieden werden können. Mit anderen Worten: Szenarien sind kein Ersatz für politische Zielfindung und darauf bezogenes Handeln. Sicher ist, dass das Mischungsverhältnis der erneuerbaren Energien anders aussehen wird, als jedes Szenario vorhersagen kann.
Nicht alle eingeführten Anlagen werden überdies den jeweils – der Einfachheit und Berechenbarkeit halber – errechneten Kapazitätsgrößen entsprechen. Eine Reihe von technischen Optionen bleibt deshalb auch in allen Großszenarien unberücksichtigt. Vor allem bleiben in allen auf ganze Staaten, auf Europa oder auf die Welt insgesamt bezogenen Szenarien die potenziell zahllosen Kleinanlagen außer Betracht, ob für Solarstrom, Windstrom, Wasserstrom, geothermische Energienutzung oder Anlagen für die kombinierte Erzeugung von Strom, Wärme und Kühlung – und ebenso die Potenziale integrierter Energiegewinnung in Gebäuden und Geräten und unterschiedlicher Speichermethoden. Sie sind aber diejenigen, die am schnellsten und sehr breit – weil unabhängig nutzbar – realisiert werden können und daher für den kulturellen Wandel der Energieversorgung stehen. Auffallend ist deshalb, dass die meisten auf ganze Länder bezogenen neueren Szenarien demgegenüber einen großräumigen internationalisierten Netzverbund vorsehen – mit Ausnahme des Szenarios »Regionenverbund« und »Lokal-Autark« des Umweltbundesamts und einer von drei vorgestellten Optionen des deutschen Sachverständigenrats für Umweltfragen. Ganz im Gegensatz zu Großverbundentwürfen stehen die kommunalen und regionalen 100 Prozent-Entwürfe und Initiativen, die bereits mitten in der praktischen Umsetzung sind.
Wie also ein alle Energiebedürfnisse erfassender Wechsel zu erneuerbaren Energien tatsächlich realisiert wird – d.h. mit welchen Anteilen der jeweils zur Verfügung stehenden Technikoptionen, in welchen Kapazitätsgrößen und in welchem Land oder welcher Region –wird und kann sich erst im konkret praktizierten Energiewechsel herauskristallisieren. Der Vollzug des Energiewechsels wird jeweils von Land zu Land, von Region zu Region anders sein, je nach politischen, geografischen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen. Alle Szenarien sind deshalb auf ihre Art Glasperlenspiele. Ihr Stellenwert ist ein anderer: Sie zeigen die prinzipielle technische und wirtschaftliche Realisierbarkeit einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien auf. Die praktische Realisierung selbst kann dann dank der wachsenden Vielfalt der Technologien und deren Produktivitätssteigerung nur noch günstiger und vor allem vielfältiger ausfallen.
Damit sind solche Szenarien realistischer als diejenigen, die sogar von öffentlichen Institutionen – Forschungszentren und internationalen Energieorganisationen wie der IEA – für fossile Energien und die Atomenergie bis heute vorgelegt werden: Szenarien etwa, in denen fossile Energiereserven in Größenordnungen angenommen werden, für die es keine empirischen Belege gibt. Die zum Beispiel Atomanlagen wie den »Schnellen Brüter« in Zukunftsprojektionen einbeziehen, obwohl es bis heute keinen operationsfähigen Reaktor dieser Art gibt. Oder wenn, wie bereits erwähnt, die IEA den Bau neuer Atomreaktoren empfiehlt – ohne angeben zu können, woher die dafür erforderlichen Uranmengen kommen könnten und wie eine auf Dauer gesicherte Endlagerung der anfallenden gigantischen Atommüllmengen gewährleistet werden kann. Die von der IEA am 1. Juli 2010 veröffentlichten »Energy Technology Perspectives 2010« gehen sogar so weit, für die Weltenergieversorgung des Jahres 2050 einen Anteil von 19 Prozent durch CCS-Ansätze – mit weltweit 3000 Kraftwerken – zu prognostizieren, obwohl höchste Zweifel an der politischen und wirtschaftlichen Umsetzbarkeit dieser Technik bestehen. Und die Kernfusion, an der mit einem uferlosen Milliardenaufwand gearbeitet wird? Niemand weiß, ob sie jemals funktionieren wird, über ihre Risiken wird geschwiegen, und selbst ihre Befürworter sagen, dass sie nicht vor Mitte des 21. Jahrhunderts zur Verfügung stehen kann. Zu diesem Zeitpunkt muss der Wechsel zu erneuerbaren Energien längst vollzogen sein. Die Kernfusion ist die Resthoffnung des alten Energiedenkens, das die Weltzivilisation in eine schon fast ausweglos scheinende Situation geführt hat.
Die Uhr der unterirdischen, in Kohle und Uran, Erdöl und Erdgas gebundenen Energien läuft unweigerlich ab. Die Stunde schlägt für die oberirdischen erneuerbaren Energien. Deren vorhandenes Potenzial war vor hundert, tausend oder zehntausend Jahren schon genauso groß wie jetzt, und es wird in zehn, fünfzig, hundert oder wesentlich mehr Jahren nicht größer. Um das fossile und atomare Zeitalter schnell hinter uns zu lassen, sind 100 Prozent-Szenarien eine gedankliche Hilfestellung. Einen Plan oder gar eine Strategie liefern sie nicht. Auch das Buch »Wir haben die Wahl« von Al Gore, das den Untertitel »Ein Plan zur Lösung der Klimakrise« trägt, erfüllt die damit geweckten Erwartungen nicht. Es enthält einen anschaulichen Überblick über alle Energiequellen mit klarer Favorisierung der erneuerbaren Energien und fokussiert seine Handlungsempfehlungen auf eine CO2-Steuer und den Handel mit Emissionszertifikaten.[19] Für die Realisierung des Energiewechsels geben solche Skizzen nicht viel her. Die Frage, wie und von wem er realisiert werden könnte, wird nicht beantwortet. Um einen politischen Plan durchzusetzen, bedarf es jedoch strategischer Kompetenz für die Auseinandersetzung mit konterkarierenden Interessen und Strukturen.
D. Strukturkonflikt: Das Spannungsverhältnis zwischen konträren Energiesystemen
Die Systemdifferenz ist der dritte große Unterschied zwischen konventionellen und erneuerbaren Energien, neben dem Unterschied zwischen nur noch begrenzter und dauerhafter Verfügbarkeit und dem zwischen Emissionen einerseits und Nullemissionen andererseits. Sie ist objektiver Natur und darf deshalb nicht aus subjektiven Gründen der Konfliktvermeidung verwischt oder aus Gedankenlosigkeit unbedacht bleiben. Die mangelnde Beachtung dieser Systemdifferenz führt zu schweren strategischen Denkfehlern.
Dazu gehört der Denkfehler, dass der Bann der Energiewirtschaft gegen erneuerbare Energien gebrochen wäre, sobald diese »wettbewerbsfähig« seien oder gar kostengünstiger produzierten. Dies ist jedoch ein systemischer Irrtum. Das konventionelle Energiesystem ist entlang des von ihm organisierten Energieflusses organisiert. Wenn aus diesem das wichtigste einzelne Element – das Kraftwerk – herausgenommen und durch eine Stromproduktion aus erneuerbarer Energie ersetzt wird, hat das unmittelbare Auswirkungen auf die diesem Kraftwerk vor- und nachgelagerten Einrichtungen. Die zuvor eingesetzte Primärenergie muss einen anderen Abnehmer finden oder wird gar nicht mehr nachgefragt. Das hat Auswirkungen auf die Primärenergiepreise und auf die Wirtschaftlichkeit der Transportinfrastrukturen. Gleiches gilt für den nachgelagerten Bereich, vor allem für das auf die Kraftwerkstandorte zugeschnittene Stromübertragungsnetz. Fällt ein Standort aus, weil der alternative Strom an anderer Stelle produziert werden kann, wird auch ein Teil des bestehenden Übertragungsnetzes überflüssig. Strom aus erneuerbaren Energien wird aber praktisch nie an denselben Standorten produziert wie konventionell erzeugter Strom, sondern in der Regel an vielen Standorten in kleinen Produktionseinheiten.