Die erste Nachkriegsgeneration stand unter dem Schock der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vom August 1945. Sie lebte im kurz danach beginnenden »Kalten Krieg« zwischen »West« und »Ost« in akuter Angst vor einem Atomkrieg. Auch das erklärt die Hoffnung auf eine »friedliche Nutzung der Atomenergie«: angesichts des atomaren Wettrüstens und der atomaren Abschreckungsstrategien sollte der destruktiven Technologie der Atomspaltung eine konstruktive Seite abgewonnen werden. So wurde aus der Bewegung gegen die Atombombe eine für Atomkraftwerke. Erst später, ab den 1970er Jahren, reifte und verbreitete sich das Bewusstsein, dass auch diese Hoffnung eine gefährliche Schimäre ist. Aber die sich spätestens jetzt aufdrängende Konsequenz wurde immer noch nicht gezogen, das volle Augenmerk auf die erneuerbaren Energien – also auf die nichtfossile Alternative zur Atomenergie – zu richten. Noch erschien es selbst der aufkeimenden Umweltbewegung unvorstellbar, dass erneuerbare Energien allein die Energiebedürfnisse der Menschen befriedigen könnten. Bis in die 1990er Jahre hinein scheuten sich die meisten Wissenschaftler und Politiker, sich offen für erneuerbare Energien als ebenbürtige und sogar überlegene und höherwertige Option für die Energieversorgung auszusprechen. Selbst Verfechter der erneuerbaren Energien beugten sich der herrschenden Meinung und warben für ihre Projekte oftmals in einem entschuldigenden Ton. Ihnen war bewusst, dass sie damit Häresie gegen das ausgerufene »Atomzeitalter« begingen.
A. Die Macht des Bestehenden: Das Weltbild der fossilen und atomaren Energieversorgung
Jahrzehntelang hat die Atomenergie davon abgelenkt, dass die erneuerbaren Energien die originäre Alternative zu fossilen Energien darstellen. Der Atomenergie wurde die tragende Rolle für das nachfossile Zeitalter zugedacht, sogar mit Ausschließlichkeitsanspruch. Wäre stattdessen vor einem halben Jahrhundert mit derselben Intensität auf erneuerbare Energien gesetzt worden, so hätten wir wahrscheinlich heute kein die Weltzivilisation bedrohendes Klimaproblem. Wir hätten dann keine Energiekriege erleben müssen wie den Golfkrieg oder den Irakkrieg. Es gäbe deutlich weniger Luftverschmutzung und weniger Krankheiten – und keinen Atommüll, von dem wir nicht wissen, wo, wann und wie wir ihn dauerhaft und sicher lagern sollen und welche Probleme und Kosten er für undenkbar lange Zeiträume hinterlässt. Wir hätten wahrscheinlich längst eine Industrie mit Cleantech-Produkten, kaum Umweltflüchtlinge und weniger Armut in den Entwicklungsländern. Wir würden heute in einer Welt ohne kollektive Zukunftsängste leben. Die Weltzivilisation könnte sicher sein, den folgenden Generationen gleiche Lebenschancen zu hinterlassen, statt ihnen untragbare Lasten aufzubürden.
Dieses Gedankenspiel ist mehr als ein wehmütiger Rückblick: Den erneuerbaren Energien standen tatsächlich schon in den 1950er Jahren mehr greifbare technologische Möglichkeiten offen als der Atomenergie. Noch bevor ein einziges Atomkraftwerk gebaut war, gab es auf diesem Feld vielerlei praktische Erfahrungen. Wie Strom aus Wind produziert wird, wusste man bereits, seit der dänische Schulmeister Paul la Cour 1891 die erste Anlage in Betrieb genommen hatte. In den USA gab es in den 1930er Jahren schon mehrere Millionen Windräder in den Farmregionen.[4] Wie man Strom in solarthermischen Kraftwerken produziert, hatte Frankreich bereits demonstriert, nachzulesen in dem Buch »Das goldene Öl« von Marcel Perrot.[5] Auch die Stromerzeugung durch Lichtumwandlung (Photovoltaik) machte ab Mitte der 1950er Jahre erste Fortschritte. Zunächst war sie für die Raumfahrt entwickelt worden, wie in dem wegweisenden Buch von Wolfgang Palz über die Geschichte dieser Technologie rekapituliert wird.[6] Dass Strom mit von Wasser angetriebenen Turbinen produziert werden kann, war ohnehin Allgemeingut, denn die Geschichte der Stromproduktion begann mit vielen kleinen Wasserkraftwerken, bevor der Trend zu Großwasserkraftwerken mit immer größeren Stauseen einsetzte. Dezentrale Anlagen in Fließgewässern stellten längst ein großes Potenzial dar, das jedoch zunehmend vernachlässigt wurde. Auch für die Nutzung von Biogas gab es schon viele Beispiele, ebenso wie für Kraftstoffe aus Biomasse. Die technologischen Erfordernisse, um aus solchen Optionen ein zuverlässiges System der Stromversorgung zu machen, waren stets weniger komplex und aufwendig als bei der Atomenergie. Heute sind – trotz immer noch anhaltender Benachteiligung der erneuerbaren Energien in der staatlichen Forschungspolitik im Verhältnis zur Atomenergie – die technischen und wirtschaftlichen Möglichkeiten einer Umorientierung auf erneuerbare Energien so weit entwickelt, dass die vollständige Transformation der Energieversorgung ohne weitere Verzögerung zügig vorangetrieben und damit die atomare und fossile Epoche beendet werden kann.
Die auf fossile und Atomenergie gestützte Energieversorgung wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zum Leitbild der Energieversorgung. Zu diesem gehört die Fixierung auf Großkraftwerke und dafür ausgelegte Stromnetze. Leitbilder, denen mehrere Generationen gefolgt sind, werden zu Axiomen – d. h. zu Grundannahmen, die keines weiteren Beweises mehr bedürfen und deren Infragestellung tabuisiert wird. In der Wissenschaft wurde daraus ein Paradigma, das die Denkrichtung bestimmte und Widerspruch ausschloss. Der Konsens der Wissenschaft übertrug sich auf die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft insgesamt. Er bestimmt Entscheidungen, die physische Gestalt annehmen und für breite Bevölkerungskreise zur Selbstverständlichkeit werden. Menschen versuchen gewöhnlich, die Welt über das zu verstehen, was sie sehen und was ihr Verhalten geprägt hat. Das Paradigma wird zum Weltbild, das das Denken und Handeln selbst dann noch unbewusst bestimmt, wenn es Alternativen gibt. Es hält sich umso hartnäckiger, wenn starke Interessen mit meinungsbildendem Einfluss unbedingt daran festhalten wollen. Das Ergebnis ist dann eine hermetische Sicht der Dinge mit beschränkter Außenwahrnehmung.
Das bekannteste historische Beispiel einer hartnäckigen Weltbildverhaftung ist das der katholischen Kirche gegenüber der Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Diese Entdeckung des Astronomen Nikolaus Kopernikus (1473–1543) widersprach dem geozentrischen Weltbild, das zum Glaubenssatz der Kirche geworden war, die die Erde als Zentrum des Universums und den Menschen als Zentralfigur der Schöpfung sah. Der Konflikt darüber entbrannte jedoch erst, als die neue heliozentrische Weltsicht von Galileo Galilei (1564 –1642), dem berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit, bestätigt und öffentlich verbreitet wurde. Deshalb wurde er der Häresie beschuldigt. Es dauerte dreihundertsechzig Jahre, bis Galilei im Jahr 1992 von Papst Johannes Paul II. – nach einer dreizehn Jahre dauernden Untersuchung! – öffentlich rehabilitiert wurde, zu einem Zeitpunkt also, als das heliozentrische Weltbild längst Allgemeingut geworden war. Das Eingeständnis, dass die erneuerbaren Energien die durchgängige Perspektive für die Energieversorgung der Menschen sind, bedeutet eine kopernikanisch-galiläische Wende im Denken über Energie und in der Praxis der Energiebereitstellung. Die Negierung der erneuerbaren Energien und die Verketzerung ihrer Protagonisten hat nicht so lange gedauert wie bei Galilei. Sie wurde aber für die jüngere Weltentwicklung entschieden folgenreicher.
Auch die Verfechter der überkommenen Energieversorgung haben ihre Kurie, ihre Theologen und ein gut etabliertes Organisationsgefüge: Energiekonzerne, internationale Energieinstitutionen (Internationale Atomenergie-Agentur, Internationale Energie-Agentur, Nuclear Energy Agency, EURATOM) sowie nationale Institutionen. Diese monopolisierten jahrzehntelang die Energiediskussion und repräsentieren bis heute das überkommene Energiedenken. Die Umstellung auf erneuerbare Energien erfordert – schon aus physikalischen Gründen – ein neues Denken. Kein System der Energiebereitstellung – gemeint ist damit der technologische, organisatorische, finanzwirtschaftliche und politische Gesamtaufwand, um Energie verfügbar zu machen – kann neutral gegenüber seinen Energiequellen sein. Es wäre eine krasse Fehlentwicklung, die auf die fossilen und atomaren Energien zugeschnittenen Strukturen beizubehalten und innerhalb dieser lediglich die Energiequellen auszutauschen. Die jeweiligen technologischen, organisatorischen, finanziellen und politischen Anforderungen an eine Energiebereitstellung