Mit anderen Worten: Die Stromerzeugungskosten oder auch die Brennstoffkosten für herkömmliche Energien sind für einen Stromkonzern nicht die einzigen Entscheidungskriterien, und nicht einmal die unbedingt wichtigsten. Entscheidend sind die jeweiligen Systemkosten des Unternehmens. Gleiches gilt für den Kraftstoffsektor: Benzin, Diesel und Kerosin werden in Ölraffinerien produziert. Die jeweiligen Derivate dieser Produktionssegmente stellen Sekundärstoffe dar, die etwa für die Produktion von Schmierölen, Düngemitteln und Kunststoffen genutzt werden. Fällt eines dieser Nebenprodukte aus der Verwertung, wird es zu Abfall. Solche internen Rückkopplungen erklären die geringe Flexibilität des etablierten Energiesystems gegenüber Substituten durch andere Anbieter, die den Betrieb stören. Die Energiekonzerne sind Gefangene ihres eigenen Systems. Ihr spezifisches Problem stellen sie jedoch gern als allgemeines dar, indem sie ihre Unternehmensratio zur volkswirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Rationalität verklären. Sie sehen die Einführung erneuerbarer Energien aus ihrem Blickwinkel, aber nicht aus dem des gesellschaftlichen Gesamtinteresses. Wenn sie sich daher auf erneuerbare Energien zubewegen, dann nur in dem Maße, wie sie das eingespielte System nicht durcheinander bringen. Erneuerbare Energien sind dann zunächst nur Ersatz oder Ergänzung. Der systemische »worst case« für die etablierten Energiekonzerne trifft ein, wenn der Durchbruch zu erneuerbaren Energien durch andere schnell und auf breiter Front erfolgt, so dass ihnen das Geschehen aus den Händen gleitet. Um nicht abgehängt zu werden, sind sie deshalb aktuell zu Eigenaktivitäten für erneuerbare Energien gezwungen, werden dabei aber immer für sie »systemgerechte« Ansätze bevorzugen.
Wie bedrohlich der Wechsel zu erneuerbaren Energien für die Energiekonzerne ist, kann jeder ermessen, der sich konkret vor Augen führt, was geschieht, sobald dieser an Fahrt gewinnt. Jeder kann sich selbst die Frage beantworten, für wen die jeweilige Entwicklung vorteilhaft oder nachteilig ist. Es ist ein Wechsel
– von Importenergie zu »heimischer Energie«, in allen Energieimportländern, wozu die Mehrzahl der Länder gehört;
– von kommerzieller zu nichtkommerzieller Primärenergie, die weder gefördert noch aufbereitet werden muss und außerdem nichts kostet;
– von einer teilweise über den halben Erdball reichenden Transportinfrastruktur für die Lieferung von Primärenergie (Pipelines, Schiffe, Züge, Tankwagen) zu einer Primärenergie, die keine Transportinfrastruktur braucht;
– von konventionellen Energiespeichern zu neuen Speicherformen für die bereits in Strom und Wärme umgewandelten erneuerbaren Energien;
– von wenigen Großkraftwerken zu zahlreichen Kraftwerken an vielen Standorten, und damit von wenigen Anbietern und konzentrierter Kapitalakkumulation zu vielen Anbietern, breit gestreuter Kapitalbildung und Wertschöpfung;
– von vielen Hochspannungsleitungen, ausgehend von Großkraftwerken, zu einer Netzstruktur, die von regional breit gestreuten Produktionseinheiten ausgehen muss;
– von der gegebenen Energielieferwirtschaft zur Produktion von Technologien, um erneuerbare Energien ernten, umwandeln und nutzen zu können.
Die einzige Ausnahme bildet die Bioenergie, weil hier die Primärenergie produziert, aufbereitet und bezahlt werden muss, was sowohl im klein- wie im großunternehmerischen Format denkbar ist. Auch hier werden sich jedoch Lieferströme bzw. Bereitstellungsketten grundlegend von denen der fossilen Energien unterscheiden.
Das konventionelle Energiesystem musste aufgrund der im globalen Maßstab notwendig gewordenen Entkoppelung von Energieförderung und Energieverbrauch zwangsläufig zu einem Reservat von Großunternehmen werden, die sich aus Gründen eigener Systemerhaltung immer mehr internationalisieren. Sie folgen damit der Systemlogik der konventionellen Energiequellen – ob als Importeur oder als Exporteur. Mit dem Wechsel zu erneuerbaren Energien werden fast alle Elemente des bisherigen Systems nach und nach funktionslos, mit den Zwischenstadien sinkender Kapazitätsauslastung. Der Wechsel zu erneuerbaren Energien geht zu Lasten der bisherigen Energiewirtschaft und von deren Zulieferern, weil deren herkömmliche Systemelemente Zug um Zug unwirtschaftlich werden. Einen Zeitpunkt, an dem ihre Anlagen gleichzeitig abgeschrieben sind, gibt es nicht einmal theoretisch. Bereits Abgeschriebenes oder Veraltetes steht neben Neuinvestitionen.
Ein schneller Energiewechsel, der objektiv möglich ist, erscheint konventionellen Energiekonzernen deshalb unmöglich – und ist es aus ihrer Sicht auch, wenn sie Kapitalvernichtung vermeiden wollen. Deshalb versuchen sie, den Wechsel zu erneuerbaren Energien entweder zu verhindern oder zu verschleppen und in jedem Fall unter ihre Kontrolle zu bringen. Weil sie selbst behindert sind, behindern sie andere. Sie folgen einer konzernwirtschaftlichen Ratio, die weder eine industriewirtschaftliche noch eine volkswirtschaftliche oder gesellschaftliche Rationalität sein kann. Sie sind die Verlierer des schnellen Energiewechsels – es sei denn, sie wären zu einer radikalen Selbstreform an Haupt und Gliedern unter Inkaufnahme schwerwiegender aktueller Verluste fähig und bereit. Aber welches Konzernsystem war dazu je in der Lage – zumal, wenn es mit so vielen räumlich weit auseinander liegenden Systemelementen verkettet ist? Dass ein Stromkonzern – wenn schon, denn schon – solare Großkraftwerke oder große Windparks auf hoher See vorzieht, kann daher nicht überraschen. Er wird das damit begründen, dass dies der »wirtschaftlichere« Ansatz sei. Aber wirtschaftlich für wen? Diese Vorlieben haben systemische Gründe und nicht allgemeingültig wirtschaftliche. Welche Technologie der erneuerbaren Energien – und damit welche ihrer Quellen – die wirtschaftlichere ist, hängt immer mit von deren Anwendungszweck und den Systembedingungen des Investors ab.
Der Wechsel zu erneuerbaren Energien ist also unweigerlich ein Konflikt zwischen zwei unterschiedlich funktionierenden Energiesystemen. Erneuerbare Energien erfordern andere Techniken, Anwendungen, Standorte, Infrastrukturen, Kalkulationen, industrielle Schwerpunkte, Unternehmensformen, Eigentumsverhältnisse und vor allem andere rechtliche Rahmenbedingungen! Die Schrittmacherrolle für erneuerbare Energien kann nicht bei den Systemträgern der konventionellen Energieversorgung liegen, also der gegenwärtigen Energiewirtschaft. Diese kann sich nicht neutral gegenüber allen Energiequellen verhalten, weil ihr Systemzuschnitt auf die herkömmlichen Energien ausgerichtet ist. Weil der Energiewechsel schnell gehen muss, kann er nicht von denjenigen abhängig gemacht werden, die ein wirtschaftliches Eigeninteresse an seiner Verlangsamung haben. Nach einer äußerst kontroversen Fernsehdiskussion, die ich mit dem Vorstandsvorsitzenden eines deutschen Stromkonzerns darüber hatte, sagte dieser mir anschließend »persönlich vertraulich«: »Sie haben leider recht. Aber wenn ich das öffentlich zugebe, bin ich morgen draußen. Was würden Sie denn tun, wenn Sie auf meinem Stuhl säßen?« Ich konnte ihm nur sagen, dass ich mich nicht auf seinen Stuhl setzen würde, allerdings auch kein Mitleid habe, weil er für seine Berufslüge eine Entschädigung in Millionenhöhe bezieht.
Die bestehenden strukturellen Barrieren gegenüber erneuerbaren Energien würden in der Praxis selbst dann weiterwirken, wenn die Konzerne sich vom Weltbild der konventionellen Energieversorgung gelöst hätten. Die treibenden Kräfte für den Wandel sind dagegen jene, die am wenigsten mit der etablierten Energiewirtschaft verflochten sind. Jede Strategie, die das übersieht, verfehlt ihr Ziel.
E. Mobilmachung: Der Energiewechsel als gesamtpolitische Herausforderung
Lester Brown, der Gründer des World-Watch-Institute und heutige Direktor des Earth Policy Institute in Washington, fordert in seinem Buch »Plan B« den Wechsel zu erneuerbaren Energien mit einer politischen Kraftanstrengung, die einer »wartime mobilization« in »Blitzgeschwindigkeit« entspricht. Er erinnert daran, wie US-Präsident