Es ist ein turbulenter Zeitraum, aber er läuft in vorhersagbaren Stadien ab. Stellen wir uns vor, wir würden einen Wald betrachten, der kürzlich durch einen Brand verwüstet wurde, oder eine Insel, die erst kürzlich aus dem Meer emporgestiegen ist. Beide werden schnell von einfachen Pflanzen wie Flechten und Moosen besiedelt. Später folgen Gräser und kleine Sträucher, noch später kommen die Bäume hinzu. Ökologen bezeichnen diesen Prozess als Sukzession, und er spielt sich auch bei Mikroorganismen ab. Ein bis drei Jahre dauert es, bis das Mikrobiom eines Babys den Zustand wie bei einem Erwachsenen erreicht hat. Anschließend tritt dauerhafte Stabilität ein. Das Mikrobiom kann sich zwar von Tag zu Tag, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang oder sogar von Mahlzeit zu Mahlzeit verändern, aber solche Schwankungen sind klein im Vergleich zu dem Wandel, der zu Beginn abläuft. Die Dynamik des Mikrobioms von Erwachsenen läuft vor einem konstanten Hintergrund ab.21
Die Sukzession sieht bei verschiedenen Tieren unterschiedlich aus, denn wir erweisen uns als wählerische Wirte. Wir werden nicht einfach von beliebigen Mikroben besiedelt, die zufällig auf uns landen. Auch wir haben Möglichkeiten, unsere Mikroorganismenpartner auszuwählen. Über diese Tricks werden wir noch Genaueres erfahren, vorerst aber wollen wir nur festhalten, dass das Mikrobiom des Menschen anders ist als das Mikrobiom der Schimpansen, und dieses sieht wiederum anders aus als das der Gorillas, genau wie die Wälder Borneos (Orang-Utans, Zwergelefanten, Gibbons) sich von denen in Madagaskar (Lemuren, Fossas, Chamäleons) oder Neuguinea (Paradiesvögel, Baumkängurus, Kasuare) unterscheiden. Das wissen wir, weil Wissenschaftler quer durch das ganze Tierreich Proben genommen und sequenziert haben. Beschrieben wurden die Mikrobiome von Pandas, Kängurus, Komodowaranen, Delfinen, Loris, Regenwürmern, Blutegeln, Hummeln, Zikaden, Röhrenwürmern, Blattläusen, Eisbären, Dugongs, Pythons, Alligatoren, Tsetsefliegen, Pinguinen, Kakapos, Austern, Wasserschweinen, Vampirfledermäusen, Meerechsen, Kuckucken, Truthähnen, Truthahngeiern, Pavianen, Gespenstschrecken und vielen anderen. Ebenso sequenzierten Wissenschaftler die Mikrobiome von Menschenbabys, Frühgeborenen, Kindern, Erwachsenen, älteren Menschen, schwangeren Frauen, Zwillingen, Stadtbewohnern aus den Vereinigten Staaten und China, Dorfbewohnern aus ländlichen Gebieten von Burkina Faso oder Malawi, Jägern und Sammlern aus Kamerun und Tansania, Völkern aus dem Amazonasgebiet, die noch nie Kontakt zur Außenwelt hatten, schlanken und dicken Menschen sowie von solchen mit guter Gesundheit und Kranken.
Solche Studien erleben eine Blütezeit. Die Erforschung des Mikrobioms ist zwar eigentlich schon Jahrhunderte alt, in den letzten Jahrzehnten hat sie aber gehörig Fahrt aufgenommen. Das lag einerseits an technischen Verbesserungen, andererseits dämmerte aber auch die Erkenntnis herauf, dass Mikroorganismen für uns insbesondere im medizinischen Umfeld von ungeheurer Bedeutung sind. Sie haben einen derart großen Einfluss auf unseren Körper, dass sie darüber bestimmen, wie wir auf Impfstoffe reagieren, wie viel Nährstoffe Kinder aus ihrer Nahrung aufnehmen können und wie gut Krebspatienten auf Medikamente ansprechen. Viele Gesundheitsstörungen, darunter Fettleibigkeit, Asthma, Darmkrebs, Diabetes und Autismus, sind von Veränderungen im Mikrobiom begleitet; demnach liegt die Vermutung nahe, dass die entsprechenden Mikroorganismen zumindest ein Anzeichen für die Krankheit und im schlimmsten Fall auch ihre Ursache sind. Wenn Letzteres zutrifft, können wir unsere Gesundheit vielleicht nennenswert verbessern, wenn wir unsere Mikroorganismengemeinschaften manipulieren: Wir können Arten hinzufügen oder wegnehmen, ganze Mikrobengemeinschaften von einem Menschen zum anderen transplantieren und synthetische Organismen herstellen. Wir können sogar die Mikrobiome anderer Tiere verändern und so Partnerschaften auseinanderreißen, mit deren Hilfe parasitische Würmer uns entsetzliche tropische Krankheiten aufhalsen; gleichzeitig können wir auch neue Symbiosen schmieden, die es den Mücken erlauben, das Virus zu bekämpfen, das die Ursache des Denguefiebers ist.
Das Wissenschaftsgebiet wandelt sich schnell und ist nach wie vor mit Unsicherheiten, Undurchschaubarkeit und Meinungsverschiedenheiten behaftet. Viele Mikroorganismen in unserem Körper können wir nicht einmal identifizieren, und erst recht können wir nicht herausfinden, welche Auswirkungen sie auf unser Leben und unsere Gesundheit haben. Aber gerade das ist spannend! Auf einem Wellenkamm zu reiten und die vor einem liegende Strecke zu betrachten, ist doch besser, als schon wieder am Strand gelandet zu sein. Auf dieser Welle reiten heute Hunderte von Wissenschaftlern. Die Forschungsmittel fließen. Die Zahl der einschlägigen wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist steil angestiegen. Mikroorganismen haben immer unseren Planeten beherrscht, aber zum ersten Mal in der Geschichte sind sie heute in. »Früher war das völlige Hinterhofwissenschaft; heute stehen wir damit an der vordersten Front«, sagt die Biologin Margaret McFall-Ngai. »Es macht Spaß zuzusehen, wie den Menschen klar wird, dass Mikroorganismen der Mittelpunkt des Universums sind, und wie das Fachgebiet jetzt aufblüht. Heute wissen wir, dass sie die große Vielfalt der Biosphäre ausmachen, dass sie in enger Verbindung mit Tieren leben und dass die Biologie der Tiere durch ihre Wechselwirkung mit Mikroorganismen geprägt wurde. Für mich ist das die bedeutsamste Revolution in der Biologie seit Darwin.«
Kritiker behaupten, das Mikrobiom habe seine Beliebtheit nicht verdient und die Studien in dem Fachgebiet würden in ihrer Mehrzahl kaum mehr leisten als eine fantasievolle Form des Briefmarkensammelns. Was haben wir davon, wenn wir wissen, welche Mikroorganismen im Gesicht eines Schuppentiers oder im Darm eines Menschen leben? Wir wissen dann zwar etwas über das Was und Wo, aber nicht über das Warum oder Wie. Warum leben manche Mikroorganismen auf bestimmten Tieren, andere aber nicht, oder auf wenigen Menschen, aber nicht auf jedem, oder auf bestimmten Körperteilen, aber nicht auf allen? Warum sehen wir gerade diese und keine anderen Gesetzmäßigkeiten? Wie sind diese Gesetzmäßigkeiten entstanden? Wie finden Mikroorganismen überhaupt erst den Weg zu ihren Wirten? Wie besiegeln sie ihre Partnerschaft? Wie verändern Mikroorganismen und Wirte sich gegenseitig, sobald sie zusammen sind? Wie kommen sie zurecht, wenn ihr Bündnis zerbricht?
Solche weitreichenden Fragen versucht man in dem Fachgebiet zu beantworten. In diesem Buch werde ich zeigen, wie weit wir damit schon gekommen sind, wie vielversprechend es ist, Mikrobiome zu verstehen und zu verändern, und inwieweit wir dieses Vorhaben schon verwirklicht haben. Vorerst wollen wir festhalten, dass man diese Fragen nur beantworten kann, wenn man viele kleine Einzeldaten sammelt, genau wie Darwin und Wallace es auf ihren bahnbrechenden Reisen taten. Das Briefmarkensammeln ist wichtig. »Auch Darwins Journal war nicht mehr als ein farbiger Reisebericht, eine Parade exotischer Geschöpfe und Orte, und trug keine Evolu tionstheorie vor«, schrieb David Quammen.22 »Die Theorie sollte erst später kommen.« Davor stand aber noch eine Menge harte Arbeit. Klassifizieren. Katalogisieren. Sammeln. »Auf einem neuen, unerforschten Kontinent muss man auch erst einmal herausfinden, wo sich die Dinge befinden, bevor man feststellen kann, warum sie dort und nicht woanders sind«, sagt Rob Knight.
Mit diesem Entdeckergeist wandte Knight sich zum ersten Mal an den Zoo von San Diego. Er wollte die Gesichter und die Haut verschiedener Säugetiere abtupfen und so ihre Mikrobiome charakterisieren, aber auch herausfinden, welche Substanzen – Stoffwechselpro dukte – diese Mikroorganismen abgeben. Die Stoffwechselprodukte prägen die Umgebung, in der Mikroorganismen leben und sich weiterentwickeln, und sie zeigen nicht nur, welche Mikroorganismen vorhanden sind, sondern auch, was sie tun. Sich einen Überblick über die Stoffwechselprodukte zu verschaffen, ist vergleichbar damit, ein Verzeichnis von Kunstwerken, Lebensmitteln, Erfindungen und Exporten einer Stadt zusammenzustellen, statt nur ihre Bürger zu zählen. In letzter Zeit bemühte Knight sich auch darum, einen Überblick über die Stoffwechselprodukte im Gesicht der Menschen zu finden, aber dabei musste er feststellen, dass Kosmetikprodukte wie Sonnenmilch oder Gesichtscreme die natürlichen Stoffwechselprodukte ertränken.23 Die Lösung: Er tupfte die Gesichter von Tieren ab. Schließlich benutzt Baba, das Schuppentier, keine Feuchtigkeitscreme. »Wir hoffen auch auf Proben aus dem Mund«, sagt Knight, »und vielleicht