Jeder von uns verfügt über ein üppiges, mikroskopisches Sammelsurium, das zusammenfassend als Mikroflora oder Mikrobiom bezeichnet wird.1 Die Mikroben leben auf unserer Oberfläche, in unserem Körper und manchmal sogar innerhalb unserer eigenen Zellen. In ihrer großen Mehrzahl sind es Bakterien, aber es gibt auch andere winzig kleine Organismen, darunter Pilze (beispielsweise die Hefen) und Archaea, eine rätselhafte Gruppe, die uns später wieder begegnen wird. Außerdem Viren in unvorstellbarer Zahl – sie bilden ein Virom, das alle anderen Mikroorganismen und gelegentlich auch die Zellen des Wirtsorganismus infiziert. Von all diesen winzigen Dingern sehen wir nichts. Würden unsere eigenen Zellen allerdings auf rätselhafte Weise verschwinden, könnten wir vielleicht einen gespenstischen Mikrobenschimmer wahrnehmen, der die Umrisse des verschwundenen Tieres nachzeichnet.2
In manchen Fällen würde man das Fehlen der Zellen kaum bemerken. Zu den einfachsten Tieren gehören die Schwämme: Ihr unbeweglicher Körper ist niemals dicker als ein paar Zellen, und auch sie beherbergen ein gedeihendes Mikrobiom.3 Wenn man Schwämme unter dem Mikroskop betrachtet, sieht man das Tier manchmal kaum, weil es vollständig von Mikroben bedeckt ist. Die noch einfacheren Plattentiere oder Placozoa sind eigentlich nicht mehr als feuchte Matten aus Zellen; sie sehen aus wie Amöben, sind aber Tiere wie wir und besitzen ebenfalls Mikroben als Partner. Ameisen leben manchmal zu Millionen in Kolonien zusammen, aber auch jede einzelne Ameise ist wiederum eine Kolonie. Ein Eisbär, der allein durch die Arktis schlendert und in alle Richtungen nichts sieht als Eis, ist in Wirklichkeit vollständig eingehüllt. Streifengänse tragen Mikroben über den Himalaja, und Elefantenrobben nehmen sie mit in die Tiefen der Ozeane. Als Neil Armstrong und Buzz Aldrin zum ersten Mal einen Fuß auf den Mond setzten, war das auch ein Riesenschritt für die Gemeinschaft der Mikroben.
Als Orson Welles sagte: »Wir werden allein geboren, wir leben allein, wir sterben allein«, hatte er unrecht. Selbst wenn wir allein sind, sind wir nie allein. Unser Dasein ist eine Symbiose – dieser wunderbare Begriff bezeichnet das Zusammenleben verschiedenartiger Organismen. Manche Tiere werden von Mikroben besiedelt, wenn sie noch unbefruchtete Eizellen sind; andere nehmen im Augenblick der Geburt ihre ersten Partner auf. Anschließend gehen wir in ihrer Gegenwart durch unser ganzes Leben. Wenn wir essen, essen sie auch, wenn wir reisen, kommen sie mit. Wenn wir sterben, fressen sie uns auf. Jeder von uns ist sein eigener Zoo – eine Kolonie, die in einem einzigen Körper eingeschlossen ist. Ein Kollektiv zahlreicher Arten. Eine ganze Welt.
Diese Vorstellungen sind mitunter schwer zu fassen, nicht zuletzt weil wir Menschen eine weltweit verbreitete Spezies sind. Unsere Reichweite ist grenzenlos. Wir haben uns bis in die hintersten Winkel unserer blauen Murmel ausgebreitet, und manche von uns haben sie sogar verlassen. Da mag es ein seltsamer Gedanke sein, dass so manches Dasein sich in einem Darm oder in einer einzelnen Zelle abspielt, und ebenso mag es merkwürdig erscheinen, sich unsere Körperteile als hügelige Landschaften vorzustellen. Und doch sind sie es. Die Erde beherbergt eine Fülle verschiedener Ökosysteme: Regenwälder, Graslandschaften, Korallenriffe, Wüsten, Salzmarschen, und jedes davon hat seine eigene Artengemeinschaft. Aber auch ein einzelnes Tier ist voller Ökosysteme. Haut, Mund, Darm, Genitalien – jedes Organ, das in einer Verbindung mit der Außenwelt steht, besitzt seine eigene, charakteristische Mikrobengemeinschaft.4 Alle Prinzipien, mit denen Ökologen die kontinentweiten, via Satellit sichtbaren Ökosysteme beschreiben, gelten auch für die Ökosysteme in unserem Körper, die wir mit dem Mikroskop betrachten. Wir können über die Vielfalt der Mikrobenarten sprechen. Wir können Nahrungsnetze zeichnen, in denen verschiedene Lebewesen sich gegenseitig fressen und gefressen werden. Wir können einzelne wichtige Mikroben herausgreifen, die in ihrer Umwelt einen überproportional großen Einfluss ausüben – ähnlich wie Seeotter oder Wölfe. Wir können Mikroorganismen, die Krankheiten auslösen – Krankheitserreger –, als invasive Arten betrachten wie Aga-Kröten oder Feuerameisen. Den Darm eines Menschen, der an einer entzündlichen Darmkrankheit leidet, können wir mit einem sterbenden Korallenriff oder einem brach liegenden Acker vergleichen: Er ist ein misshandeltes Ökosystem, in dem das Gleichgewicht der Organismen verloren gegangen ist.
Was solche Ähnlichkeiten bedeuten, ist klar: Wenn wir eine Termite, einen Schwamm oder eine Maus betrachten, werfen wir auch einen Blick auf uns selbst. Diese Tiere beherbergen vielleicht andere Mikroben als wir, aber die Bündnisse unterliegen den gleichen Prinzipien. Ein Tintenfisch, dessen Leuchtbakterien nur nachts glimmen, liefert uns Aufschlüsse über das tägliche Auf und Ab der Bakterien in unserem Darm. Ein Korallenriff, in dem die Mikroben wegen Wasserverschmutzung oder Überfischung Amok laufen, gibt einen Hinweis darauf, welches Chaos in unserem Darm ausbricht, wenn wir ungesunde Lebensmittel oder Antibiotika zu uns nehmen. Eine Maus, deren Verhalten sich unter dem Einfluss ihrer Darmmikroben ändert, sagt uns etwas über die weitreichenden Einflüsse, die unsere eigenen Gefährten in unserem Geist ausüben. Über die Mikroben finden wir trotz unseres unglaublich unterschiedlichen Lebens die Einheit mit unseren Mitgeschöpfen. Keines von ihnen lebt isoliert; ihr Dasein bewegt sich immer in einem mikrobiologischen Zusammenhang und umfasst den ständigen Austausch zwischen großen und kleinen Arten. Mikroben – auch Mikroorganismen genannt – wechseln nicht nur zwischen verschiedenen Tieren hin und her, sondern auch zwischen unserem Körper und dem Boden, dem Wasser, der Luft, Gebäuden und anderen Elementen unserer Umwelt. Sie verbinden uns miteinander und mit der Welt.
Alle Zoologie ist eigentlich Ökologie. Ohne etwas über unsere Mikroben und unsere Symbiose mit ihnen zu wissen, können wir das Leben der Tiere nicht vollständig verstehen. Und wir können unser eigenes Mikrobiom nicht umfassend einschätzen, wenn wir nicht wissen, wie das Mikrobiom anderer Arten deren Leben bereichert und beeinflusst. Wir müssen das Panorama des gesamten Tierreichs betrachten und gleichzeitig die verborgenen Ökosysteme, die in jedem Lebewesen stecken, aus der Nähe betrachten. Wenn wir uns Käfer und Elefanten ansehen, Seeigel und Regenwürmer, Eltern und Freunde, dann sehen wir Individuen, die als Haufen von Zellen in einem einzigen Körper ihren Weg durchs Leben gehen, angetrieben von einem einzigen Gehirn und gelenkt von einem einzigen Genom. Aber das ist nur angenehme Fiktion. In Wirklichkeit sind wir, jeder und jede Einzelne von uns, ganz viele. Sind immer ein »Wir« und niemals nur ein »Ich«. Vergessen wir Orson Welles, und hören wir auf Walt Whitman: »Ich bin groß, ich enthalte Vielheiten.«5
KAPITEL 1
LEBENDE INSELN
DIE ERDE IST 4,54 MILLIARDEN JAHRE ALT. Ein so atemberaubend langer Zeitraum ist nicht zu begreifen, also drängen wir einmal die gesamte Geschichte unseres Planeten auf ein einziges Kalenderjahr zusammen.1 Gerade jetzt, da Sie diese Seite lesen, schreiben wir den 31. Dezember unmittelbar vor Mitternacht. (Dankenswerterweise wurde das Feuerwerk erst vor neun Sekunden erfunden.) Menschen gibt es seit höchstens dreißig Minuten. Bis zum Abend des 26. Dezember beherrschten Dinosaurier die Erde, dann aber traf ein Aste roid den Planeten und löschte sie (mit Ausnahme der Vögel) aus. Blumen und Säugetiere entwickelten sich im Laufe des Dezember. Im November besiedelten Pflanzen das Land, und in den Meeren erschienen die meisten Hauptgruppen der Tiere. Pflanzen und Tiere bestehen aus vielen Zellen, und ähnliche vielzellige Organismen hatten sich mit Sicherheit bereits Anfang Oktober entwickelt. Möglicherweise erschienen sie schon früher auf der Bildfläche – die Fossilien sind zweideutig und lassen verschiedene Interpretationen zu –, aber in jedem Fall waren sie selten. Vor dem Oktober handelte es sich bei nahezu allen Lebewesen auf dem Planeten um einzelne Zellen. Sie wären für das bloße Auge unsichtbar gewesen, wenn es Augen gegeben hätte. So war es seit irgendeinem Zeitpunkt im März, als zum ersten Mal Leben entstand.
Um es noch einmal zu betonen: Alle sichtbaren Lebewesen, die uns heute vertraut sind, alles, was uns einfällt, wenn wir an die »Natur« denken,