Vereinzelt ging man in Forschungsarbeiten der Frage nach, ob Menschen sich anders verhalten, nachdem sie Antibiotika oder Probiotika zu sich genommen haben, aber solche Untersuchungen leiden an methodischen Problemen und zweideutigen Ergebnissen. In einer zwar kleinen, aber schon vielversprechenderen Studie fand Kirsten Tillisch etwas Interessantes heraus: Frauen, die zweimal täglich mikrobenreichen Joghurt zu sich nehmen, weisen in den Teilen des Gehirns, die an der Verarbeitung von Gefühlen beteiligt sind, im Vergleich zu Frauen mit einer Ernährung aus mikrobenfreien Milchprodukten eine geringere Aktivität auf. Über die Frage, was solche Unterschiede bedeuten, kann man diskutieren, aber zumindest zeigen sie, dass Bakterien sich auch auf die Aktivität des menschlichen Gehirns auswirken können.44
Die Nagelprobe wird in der Klärung der Frage liegen, ob Bakterien den Menschen helfen können, Stress, Ängste, Depressionen und andere Störungen der seelischen Gesundheit besser zu bewältigen. Gewisse Anzeichen für Erfolg gibt es bereits. In einer kleinen klinischen Studie, die Stephen Collins gerade abgeschlossen hat, linderten probiotische Bakterien – ein eigener Stamm von Bifidobacterium, der einem Nahrungsmittelkonzern gehört – bei Menschen mit Reizdarm die Symptome der Depression.45 »Nach meiner Kenntnis wurde damit zum ersten Mal nachgewiesen, dass ein Probiotikum anormales Verhalten bei einer Patientengruppe verringern kann«, sagt er. Mittlerweile stehen auch John Cryan und Ted Dinan vor dem Abschluss ihrer Studie: Sie wollten wissen, ob probiotische Mikroorganismen – sie sprechen von Psychobiotika – den Menschen helfen können, mit Stress besser fertig zu werden. Dinan ist Psychiater und leitet eine Klinik für Patienten mit Depressionen; er ist mit seinen Hoffnungen sehr vorsichtig. »Ich muss sagen, dass ich zutiefst skeptisch war, als ich hörte, man könne einem Tier einen Mikroorganismus verabreichen und damit sein Verhalten verändern«, sagt er. Heute ist er zwar überzeugt, aber er hält es immer noch »für höchst unwahrscheinlich, dass wir eines Tages einen Probiotika-Cocktail haben werden, mit dem wir schwere Depressionen behandeln können. Gewisse Möglichkeiten bestehen aber am milderen Ende des Spektrums. Viele Menschen wollen keine Antidepressiva nehmen, und eine Therapie ist ihnen zu teuer; wenn wir ihnen ein wirksames Probiotikum geben könnten, wäre das für die Psychiatrie ein wichtiger Fortschritt.«
Schon heute zwingen solche Studien die Wissenschaftler dazu, verschiedene Verhaltensaspekte des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Mikroorganismen zu betrachten. Wenn man viel Alkohol trinkt, wird der Darm durchlässiger, und Mikroorganismen können das Gehirn leichter beeinflussen – wäre das vielleicht eine Erklärung dafür, warum Alkoholiker häufig unter Depressionen oder Ängsten leiden? Durch unsere Ernährung verändern sich die Mikroorganismen im Darm – könnten solche Veränderungen höhere Wellen schlagen und unseren Geist beeinflussen?46 Das Mikrobiom ist im Alter weniger stabil – könnte dieser Effekt dazu beitragen, dass ältere Menschen häufiger Gehirnkrankheiten bekommen? Und können unsere Mikroorganismen vielleicht von vornherein mit darüber bestimmen, welche Lebensmittel wir gern essen? Wer ist es eigentlich, der unsere Hand in Bewegung setzt, wenn wir nach einem Hamburger oder einem Schokoriegel greifen?
Für uns ist die Wahl eines Gerichts von einer Speisekarte gleichbedeutend mit der Entscheidung für eine gute oder eine schlechte Mahlzeit. Für unsere Darmbakterien hat die Auswahl eine weitaus größere Bedeutung. Verschiedenen Mikroorganismen geht es mit bestimmten Lebensmitteln besser. Manche können pflanzliche Ballaststoffe so gut verdauen wie kein anderer Mikroorganismus. Andere gedeihen mit Fettsubstanzen. Wenn wir uns für eine Mahlzeit entscheiden, entscheiden wir also auch, welche Bakterien gefüttert werden und welche gegenüber ihren Mitbewohnern einen Vorteil genießen. Aber die Bakterien müssen nicht einfach nur herumliegen und dankbar auf unsere Entscheidung warten. Wie wir erfahren haben, finden sie auch Wege, um sich Zugang zu unserem Nervensystem zu verschaffen. Angenommen, sie schütten, wenn wir die »richtigen« Dinge gegessen haben, Dopamin aus, einen Wirkstoff, der zu Gefühlen wie Freude und Belohnung beiträgt: Können sie uns dann darauf trainieren, bestimmte Lebensmittel gegenüber anderen zu bevorzugen? Reden sie mit, wenn wir etwas von einer Speisekarte auswählen?47
Vorerst sind das nur Hypothesen – aber an den Haaren herbeigezogen sind sie nicht. In der Natur gibt es eine Fülle von Parasiten, die den Geist ihrer Wirte lenken.48 Das Tollwutvirus infiziert das Nerven-system und macht die Betroffenen gewalttätig und aggressiv; wenn sie dann nach ihresgleichen schlagen und ihnen Bisse oder Kratzer beibringen, übertragen sie auch den Erreger auf einen neuen Wirt. Ein anderer Puppenspieler ist der Gehirnparasit Toxoplasma gondii. Er kann sich nur in Katzen fortpflanzen; gelangt er in eine Ratte, unterdrückt er die natürliche Angst des Nagers vor dem Geruch von Katzen und ersetzt sie durch etwas Ähnliches wie sexuelle Anziehungskraft. Also eilt die Ratte – fatalerweise – zu den nächstbesten Katzen, und T. gondii kann seinen Lebenszyklus abschließen.49
Das Tollwutvirus und T. gondii sind regelrechte Parasiten: Sie vermehren sich egoistisch auf Kosten ihrer Wirte, was schädliche und oftmals tödliche Folgen hat. Anders die Mikroorganismen in unserem Darm: Sie sind ein natürlicher Teil unseres Lebens. Sie tragen dazu bei, unseren Körper aufzubauen – unseren Darm, unser Immunsystem, unser Nervensystem. Sie nützen uns. Aber das sollte uns nicht zu einem falschen Gefühl der Sicherheit verleiten. Symbiontische Mikroorganismen sind immer noch eigenständige Gebilde, die eigene Interessen verfolgen und ihre eigenen Evolutionskämpfe führen. Sie können unsere Partner sein, aber unsere Freunde sind sie nicht. Selbst in der einträchtigsten Symbiose bleibt immer noch Spielraum für Konflikt, Egoismus und Betrug.
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