Winzige Gefährten. Ed Yong. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ed Yong
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783956142482
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für die Gärung als auch für die Verwesung verantwortlich sind, so behauptete Pasteur, dann können sie auch Krankheiten hervorrufen. Diese »Keimtheorie« hatten auch Plenciz und andere bereits vertreten, sie war aber nach wie vor umstritten. Man glaubte eher, Krankheiten würden durch Miasmen hervorgerufen, schlechte Luft, die von verwesender Materie ausging. Pasteur bewies 1865 etwas anderes: Er entdeckte, dass zwei Krankheiten, an denen die Seidenraupen Frankreichs litten, von Mikroben ausgelöst wurden. Er isolierte die infizierten Eier, verhinderte so, dass die Krankheiten sich ausbreiteten, und rettete die Seidenindustrie.

      Zur gleichen Zeit beschäftigte sich der Arzt Robert Koch in Deutschland mit einer Milzbrandepidemie, die das Vieh dahinraffte. Andere Wissenschaftler hatten im Gewebe der betroffenen Tiere bereits ein Bakterium namens Bacillus anthracis gesehen. Diese Mikroorganismen spritzte Koch 1876 einer Maus – woraufhin sie starb. Er gewann die Bakterien aus dem toten Nagetier und injizierte sie einem weiteren – das ebenfalls starb. Hartnäckig wiederholte er den grausigen Versuch über zwanzig Generationen hinweg, und jedes Mal geschah das Gleiche. Damit hatte Koch eindeutig gezeigt, dass das Bakterium den Milzbrand verursachte. Die Keimtheorie der Krankheiten stimmte.

      Nun hatte man die Mikroorganismen endgültig wiederentdeckt, und sie wurden sofort in die Rolle der Todesboten gedrängt. Sie waren Keime, Pathogene, Überbringer von Seuchen. In den zwanzig Jahren, die auf die Arbeit mit dem Milzbrand folgten, hatten Koch und viele andere entdeckt, welche Bakterien hinter Lepra, Tripper, Typhus, Tuberkulose, Cholera, Diphtherie, Tetanus und Pest stehen. Wie für Leeuwenhoek, so ebneten auch hier neue Hilfsmittel den Weg: bessere Linsen, neue Methoden, um Mikroorganismen in Reinkulturen auf Platten mit gallertartigem Agar heranzuzüchten, und neue Färbemethoden, mit denen man Bakterien unter dem Mikroskop besser ausmachen und identifizieren konnte. Vom Identifizieren ging man sofort zum Eliminieren über. Von Pasteur angeregt, begann der britische Chirurg Joseph Lister, in seiner Praxis neue Methoden zum Keimfreimachen anzuwenden: Er zwang seine Mitarbeiter, Hände, Instrumente und Operationssäle chemisch zu desinfizieren, und bewahrte damit unzählige Patienten vor verheerenden Infektionen. Andere suchten nach Wegen, um Bakterien an ihrer Tätigkeit zu hindern und so Krankheiten zu heilen, die Hygiene zu verbessern und Nahrung haltbar zu machen. Die Bakteriologie wurde zu einer angewandten Wissenschaft: Man studierte Mikroorganismen, um sie abzuwehren oder zu zerstören.

      Da war es auch nicht gerade hilfreich, dass ein gewisser Charles Darwin im Jahr 1859, nur kurz vor dieser Welle neuer Entdeckungen, sein Werk Die Entstehung der Arten veröffentlicht hatte. »Durch diesen historischen Zufall entwickelte sich die Keimtheorie der Krankheiten in der blutrünstigen Phase des Darwinismus: Man betrachtete das Wechselspiel zwischen den Lebewesen als Kampf ums Überleben, in dem man Freund oder Feind sein musste, ohne dass Pardon gegeben wurde«, schrieb der Mikrobiologe René Dubos.9 »Diese Einstellung prägte von Anfang an alle späteren Versuche, von Mikroorganismen verursachte Krankheiten unter Kontrolle zu bringen. Es führte zu einer Art aggressiven Kriegsführung gegen die Mikroorganismen mit dem Ziel, sie aus dem kranken Menschen und der Gemeinschaft zu entfernen.«

      Diese Einstellung herrscht bis heute. Würde ich in eine Bibliothek gehen und ein Lehrbuch der Mikrobiologie aus dem Fenster werfen, könnte ich damit leicht einem Passanten eine Gehirnerschütterung zufügen. Würde ich dagegen alle Seiten herausreißen, auf denen von nützlichen Mikroorganismen die Rede ist, könnte ich damit höchstens jemandem einen dieser gemeinen Papierschnitte antun. Berichte über Krankheit und Tod beherrschen noch heute unsere Vorstellungen von Mikrobiologie.

      Während die Keimtheoretiker im Rampenlicht standen und einen tödlichen Krankheitserreger nach dem anderen identifizierten, mühten sich andere Biologen im Hintergrund mit Arbeiten ab, welche die Mikroorganismen am Ende in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen.

      Einer der Ersten, die ihre globale Bedeutung nachwiesen, war der Niederländer Martinus Beijerinck. Der zurückgezogen lebende, abweisende und unbeliebte Wissenschaftler empfand keine Liebe für Menschen mit Ausnahme einiger enger Kollegen und auch keine Liebe zur medizinischen Mikrobiologie.10 Krankheiten interessierten ihn nicht. Er wollte Mikroorganismen in ihrem natürlichen Lebensraum studieren: in Boden, Wasser, Pflanzenwurzeln. Im Jahr 1888 fand er Bakterien, die der Luft den Stickstoff entziehen und ihn in Ammo niak verwandeln, den die Pflanzen nutzen können; später isolierte er Arten, die zur Bewegung des Schwefels durch Boden und Atmosphäre beitragen. Seine Arbeiten waren in Beijerincks Heimatstadt Delft – wo Leeuwenhoek schon zwei Jahrhunderte zuvor erstmals Bakterien zu Gesicht bekommen hatte – der Auftakt zu einer Neugeburt der Mikrobiologie. Die Mitglieder seiner neu gegründeten Delfter Schule und Geistesverwandte wie der Russe Sergei Winogradski bezeichneten sich selbst als mikrobielle Ökologen. Sie fanden heraus, dass Mikroorganismen nicht nur eine Gefahr für die Menschheit sind, sondern auch unverzichtbare Bestandteile der Welt.

      Die Zeitungen jener Zeit sprachen plötzlich von »guten Keimen«, die den Boden mit Nährstoffen anreichern und dazu beitragen, alkoholische Getränke und Milchprodukte herzustellen. Einem Lehrbuch von 1910 zufolge waren die »schlechten Keime«, auf die sich alle konzentrierten, »ein kleiner, spezialisierter Nebenzweig im Reich der Bakterien, der, grob gesagt, eigentlich von untergeordneter Bedeutung ist«.11 Die meisten Bakterien, so hieß es dort, seien abbauende Organismen, die der Welt die Nährstoffe aus verwesendem organischem Material zurückgeben. »Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, ohne [sie] … würde alles Leben auf der Erde zwangsläufig zu Ende sein.«

      Anderen Mikrobiologen wurde zur Zeit der Jahrhundertwende klar, dass viele Mikroorganismen sich die Körper der Tiere, Pflanzen und anderer sichtbarer Lebewesen teilen. Es stellte sich heraus, dass Flechten – die farbigen Flecken, die auf Wänden, Steinen, Baumrinde und Holzbalken wachsen – zusammengesetzte Lebewesen sind: Sie bestehen aus mikroskopisch kleinen Algen, die mit einem Pilz als Wirtsorganismus zusammenleben und im Austausch für Mineralstoffe und Wasser Nährstoffe liefern.12 Wie man außerdem bemerkte, enthalten die Zellen vieler Tiere wie Seeanemonen oder Plattwürmer ebenfalls Algen, in denen von Rossameisen sind dagegen lebende Bakterien zu Hause. Die Pilze, die an Baumwurzeln wachsen und die man lange für Parasiten hielt, erwiesen sich als Partner, die Stickstoff im Austausch gegen Kohlenhydrate bereitstellen.

      Solche Partnerschaften wurden nun als Symbiose bezeichnet, ein Begriff, der von den griechischen Wörtern für »zusammen« und »Leben« kommt.13 Das Wort selbst war neutral und konnte jede Form der Koexistenz bezeichnen. Wenn ein Partner auf Kosten des anderen profitierte, war er ein Parasit (oder ein Krankheitserreger, wenn er eine Krankheit verursachte). Wenn er profitierte, ohne den Wirt zu schädigen, nannte man ihn einen Kommensalen. Nützte er dem Wirt, war er ein Mutualist. Alle diese Formen des gemeinsamen Daseins gehören in die Rubrik der Symbiose.

      Solche Konzepte entwickelten sich zu einer unglücklichen Zeit. Im Schatten des Darwinismus sprachen die Biologen vom Überleben der Geeignetsten. Die Natur war rot an Zähnen und Klauen. Thomas Huxley, Darwins Bulldogge, hatte die Tierwelt mit einem »Gladiatorenkampf« verglichen. In diesem Rahmen von Konflikt und Konkurrenz nahm die Symbiose mit ihren Themen von Kooperation und Teamwork eine heikle Stellung ein. Auch zu der Idee, Mikroorganismen seien Bösewichte, passte sie nicht. In der Zeit nach Pasteur war ihre Anwesenheit zu einem Anzeichen von Krankheit geworden, und ihre Abwesenheit galt als definierendes Merkmal gesunden Gewebes. Als Friedrich Blochmann 1884 erstmals die Bakterien der Rossameisen sah, widersprach die Vorstellung von Mikroorganismen als harmlosen Mitbewohnern so stark der Intuition, dass er sprachliche Verrenkungen anstellte, um sie nicht als das beschreiben zu müssen, was sie waren.14 Er nannte sie »Plasmastäbchen« oder sprach von einer »sehr auffälligen faserigen Differenzierung des Eiplasmas«. Erst nach jahrelangen eingehenden Untersuchungen bekannte er endlich Farbe. Im Jahr 1887 schrieb er: »Ich glaube, dass man nach dem gegenwärtigen Stand unseres Wissens kaum anders kann, als die Stäbchen für Bakterien zu erklären.«

      Mittlerweile war anderen Wissenschaftlern aufgefallen, dass der Darm von Menschen und anderen Tieren ebenfalls eine Fülle symbiontischer Bakterien enthält. Sie rufen weder eine erkennbare Krankheit noch Verwesung hervor. Vielmehr sind sie einfach da – als »normale Darmflora«. »Mit der Entstehung der Tiere … war es unvermeidlich, dass Bakterien von Zeit zu Zeit in ihrem Körper in Gefangenschaft gerieten«, schrieb Arthur Isaac Kendall, ein Pionier der Erforschung von Darmbakterien.15