Das war entscheidend. Aus solchen Einzelheiten konnte Wallace eine Gesetzmäßigkeit ableiten. Bei Tieren, die an einem bestimmten Ort lebten, fiel ihm selbst dann eine große Vielgestaltigkeit auf, wenn sie zu derselben Spezies gehörten. Er sah, dass manche Inseln die einzige Heimat bestimmter Arten waren. Als er von Bali in östlicher Richtung nach Lombok segelte – eine Entfernung von nur rund 35 Kilometern –, machten die Tiere Asiens plötzlich der ganz anderen Tierwelt von Australasien Platz, als wären die beiden Inseln durch eine unsichtbare Schranke (die man später als Wallace-Linie bezeichnete) getrennt. Aus gutem Grund wird Wallace heute als Vater der Biogeografie gepriesen, jener Wissenschaft, die erforscht, wo Arten vorhanden sind und wo nicht. Aber wie David Quammen in Der Gesang des Dodo schreibt: »Wird sie von Wissenschaftlern betrieben, die Verstand haben, so beschränkt sich die Biogeografie nicht darauf, zu fragen Welche Arten? und Wo? Sie fragt auch Warum? und, was manchmal noch entscheidender ist, Warum nicht?«14
Genauso beginnt die Erforschung der Mikrobiome: Man katalogisiert, welche Arten man auf verschiedenen Tieren oder an verschiedenen Körperteilen desselben Tieres findet. Welche Arten leben wo? Warum? Und warum nicht? Wir müssen etwas über ihre Biogeografie wissen, erst dann können wir tiefer gehende Erkenntnisse über ihre Beiträge zum Leben gewinnen. Wallace’ Beobachtungen und Funde führten ihn zu der definierenden Erkenntnis der Biologie: Arten verändern sich. »Jede Spezies ist sowohl räumlich als auch zeitlich in Verbindung mit einer bereits vorhandenen, eng verwandten Spezies ins Dasein getreten«, schrieb er immer wieder und manchmal in Kursivschrift.15 Tiere treten in Wettbewerb: Die am besten geeigneten Individuen überleben, pflanzen sich fort und geben so ihre vorteilhaften Merkmale an ihre Nachkommen weiter. Das heißt, sie erleben eine Evolution durch natürliche Selektion. Das war eine der wichtigsten Erleuchtungen, die es in der Wissenschaft jemals gab, und sie begann mit einer rastlosen Neugier auf die Welt, mit dem Wunsch, sie zu erforschen, und mit der Bereitschaft, festzuhalten, wer wo zu Hause ist.
Wallace war nur einer von vielen Naturforschern und Entdeckern, die sich auf der ganzen Welt herumtrieben und ihre Reichtümer katalogisierten. Charles Darwin erduldete eine fünfjährige Weltumsegelung an Bord der HMS Beagle; dabei entdeckte er in Argentinien die fossilen Knochen riesiger Faul- und Gürteltiere, und auf den Galapagosinseln stieß er auf Riesenschildkröten, Meeresechsen und verschiedene Finkenarten. Seine Erlebnisse und Sammlungen legten den geistigen Grundstock für die gleiche Idee, die unabhängig davon auch in Wallace’ Geist aufgekeimt war: die Evolutionstheorie, die sich untrennbar mit dem Namen Darwin verbinden sollte. Thomas Henry Huxley, der die natürliche Selektion leidenschaftlich verteidigte und deshalb als »Darwins Bulldogge« bekannt wurde, reiste nach Australien und Neuguinea, um dort die wirbellosen Meerestiere zu studieren. Der Botaniker Joseph Hooker gelangte auf verschlungenen Wegen bis in die Antarktis und sammelte unterwegs Pflanzen. In jüngerer Zeit schrieb E. O. Wilson, der zuvor die Ameisen Melanesiens erforscht hatte, ein Lehrbuch über Biogeografie.
Häufig stellt man sich vor, dass diese sagenumwobenen Wissenschaftler sich ausschließlich auf die sichtbare Welt der Tiere und Pflanzen konzentrierten, die verborgene Welt der Mikroorganismen dagegen völlig außer Acht ließen. Das stimmt nicht ganz. Darwin sammelte bekanntermaßen auch Mikroben – er sprach von »Infusorien« –, die auf das Deck der Beagle geweht wurden, und korrespondierte mit führenden Mikrobiologen seiner Zeit.16 Aber viel konnte er mit den Hilfsmitteln, die ihm zur Verfügung standen, nicht ausrichten.
Heutige Wissenschaftler dagegen können Proben von Mikroorganismen sammeln und sie in ihre Bestandteile zerlegen, ihre DNA gewinnen und sie durch Sequenzierung ihrer Gene identifizieren. Damit tun sie genau das Gleiche wie Darwin und Wallace: Sie sammeln Proben von unterschiedlichen Orten, identifizieren sie und stellen die grundlegende Frage: Wer lebt wo? Sie können ebenfalls Biogeografie betreiben – nur in einem anderen Größenmaßstab. Die sanfte Zartheit eines Wattebäuschchens tritt an die Stelle des Schmetterlingsnetzes. Gene abzulesen ist so, als würde man ein Bestimmungsbuch durchblättern. Und ein Nachmittag im Zoo, an dem man von Käfig zu Käfig geht, kann etwas Ähnliches sein wie die Reise der Beagle, die von Insel zu Insel segelte.
Von Inseln waren Darwin, Wallace und ihresgleichen besonders fasziniert, und das aus gutem Grund. Inseln sucht man auf, wenn man das Leben in seinen besonders exotischen, farbenfrohen Formen und all seinen Superlativen finden will. Ihre Alleinlage, ihre festen Grenzen und ihre beschränkte Größe sorgen dafür, dass die Evolution in die Vollen gehen kann. Die Gesetze der Biologie sind hier leichter und in konzentrierterer Form zu erkennen als auf dem weiten, zusammenhängenden Festland. Aber eine Insel muss keine Landmasse sein, die von Wasser umgeben ist. Für Mikroorganismen ist eigentlich jeder Wirtsorganismus eine Insel – eine Welt, umgeben von Leere. Meine Hand, die ich im Zoo von San Diego ausstrecke, um Baba zu streicheln, ist wie ein Floß, das Arten von einer Insel in Menschengestalt zu einer Insel in Gestalt eines Schuppentiers transportiert. Ein Erwachsener, der von der Cholera niedergestreckt wird, gleicht der Insel Guam, die von Schlangen aus dem Ausland besiedelt wird. Niemand ist eine Insel? Das stimmt nicht: Aus Sicht der Bakterien ist jeder von uns eine Insel.17
Jeder von uns hat sein eigenes, charakteristisches Mikrobiom. Gestaltet wurde es von den Genen, die wir geerbt haben, von den Orten, an denen wir gelebt haben, von den Medikamenten, die wir genommen haben, von den Lebensmitteln, die wir verzehrt haben, von den Jahren, die wir schon gelebt haben, von den Händen, die wir geschüttelt haben. Mikrobiologisch sind wir alle ähnlich, aber auch unterschiedlich. Als Mikrobiologen sich zum ersten Mal daranmachten, das Mikrobiom der Menschen in seiner Gesamtheit zu katalogisieren, hatten sie die Hoffnung, ein »Kern-Mikrobiom« zu entdecken, eine Gruppe von Arten, die allen Menschen gemeinsam ist. Ob dieser Kern existiert, ist heute umstritten.18 Manche Arten sind zwar sehr weit verbreitet, aber keine findet man überall. Wenn es einen Kern gibt, dann nicht auf der Ebene der Organismen, sondern bei den Funktionen. Bestimmte Aufgaben wie die Verdauung einzelner Nährstoffe oder die Ausführung eines besonderen Kunstgriffs im Stoffwechsel werden immer von irgendeinem Mikroorganismus erfüllt – aber nicht immer von dem gleichen. Die Tendenz erkennen wir auch in größerem Maßstab. In Neuseeland stöbern die Kiwis auf der Suche nach Würmern in altem Laub und tun damit das Gleiche wie ein Dachs in England. Tiger und Nebelparder streifen durch die Wälder Sumatras, aber im katzenfreien Madagaskar ist dieselbe ökologische Nische von der Fossa besetzt, einer großen, räuberischen Manguste; und auf der Insel Komodo beansprucht eine riesige Echsenart die Spitze der Nahrungskette für sich. Verschiedene Inseln, verschiedene Arten, die gleichen Aufgaben. Bei den fraglichen Inseln könnte es sich auch um riesige Landmassen oder um einzelne Menschen handeln.
Eigentlich ähnelt jeder Einzelne eher einem Archipel – einer Kette von Inseln. Jeder unserer Körperteile hat seine eigene Mikrobenfauna, genau wie es auf den verschiedenen Galapagosinseln jeweils eigene Schildkröten und Finken gibt. Das Mikrobiom auf der menschlichen Haut ist das Revier von Propionibacterium, Corynebacterium und Staphylococcus; Bacteroides ist der Herrscher im Darm, Lactobacillus dominiert in der Vagina, und Streptococcus regiert im Mund. Auch innerhalb jedes Organs gibt es Schwankungen. Am Anfang des Dünndarms sind ganz andere Mikroorganismen zu Hause als im Enddarm. Bei den Bewohnern des Zahnbelags gibt es Unterschiede zwischen dem Bereich oberhalb und unterhalb der Zahnfleischgrenze. Auf der Haut unterscheiden sich die Mikroorganismen in den fettigen Tümpeln auf Gesicht und Brust von denen im warmen, feuchten Dschungel von Leistengegend und Achselhöhlen, aber auch von denen, die die trockenen Wüsten der Unterarme und Handflächen besiedeln. Wo wir gerade bei den Handflächen sind: Unsere rechte Hand hat nur ein Sechstel ihrer Mikroorganismenarten mit der linken Hand gemeinsam.19 Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Körperteilen stellen jene, die zwischen verschiedenen Menschen bestehen, in den Schatten. Einfach ausgedrückt, sind die Bakterien auf Ihrem Unterarm denen auf meinem Unterarm ähnlicher als denen in Ihrem Mund.
Das Mikrobiom wandelt sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Wenn ein Baby geboren wird, verlässt es die keimfreie Welt der