Was würde geschehen, wenn es diese Mikroorganismen plötzlich nicht mehr gäbe? Würden alle genannten Tiere aussterben, weil sie nicht mehr heranreifen und sich fortpflanzen können? Würden die Korallenriffe – die reichhaltigsten Ökosysteme im Meer – sich nicht mehr bilden, wenn bakterielle Kundschafter nicht zuerst die richtigen Oberflächen finden? »Ich glaube, etwas so Großspuriges habe ich nie behauptet«, sagt Hadfield mit der typischen Vorsicht des Wissenschaftlers. Dann aber fügt er zu meiner Überraschung hinzu: »Aber man könnte es durchaus so sagen. Sicher braucht nicht jede Larve im Meer einen Reiz in Form von Bakterien, und es gibt da draußen unzählige Larven, die man noch nie untersucht hat. Aber unter den Röhrenwürmern und Korallen und Seeanemonen und Rankenfußkrebsen und Moostierchen und Schwämmen … eine ellenlange Liste – unter all diesen Gruppen gibt es Beispiele dafür, dass der Schlüssel bei Bakterien liegt.«
Auch hier könnte man fragen: Warum verlassen sich die Tiere auf Hinweise von Bakterien? Möglicherweise können sich die Larven mithilfe der Mikroorganismen auf einer Oberfläche besser festhalten, oder die Mikroorganismen stellen Moleküle bereit, die Krankheitserreger in Schach halten. Aber Hadfield glaubt, dass ihr Nutzen schlichter ist. Ein Biofilm liefert der Tierlarve wichtige Informationen. Er besagt, dass es erstens eine feste Oberfläche gibt, die zweitens schon seit einiger Zeit dort vorhanden ist, drittens nicht giftig ist und viertens genug Nährstoffe enthält, um Mikroorganismen zu versorgen. Gründe genug, sich niederzulassen. Die bessere Frage würde lauten: Warum sollte man sich nicht auf Hinweise von Bakterien verlassen? Oder noch besser: Welche andere Wahl hat man? »Als die Larven der ersten Meerestiere bereit waren, sich niederzulassen, gab es keine sauberen Oberflächen«, sagt Hadfield im Anklang an Rawls und King. »Sie waren alle von Bakterien bedeckt. Da ist es nicht verwunderlich, dass Unterschiede in diesen Bakteriengemeinschaften der ursprüngliche Anhaltspunkt für das Sesshaftwerden waren.«
Sowohl Kings Choanos als auch Hadfields Würmer sind ausgezeichnet auf die Mikroorganismen abgestimmt und werden von ihnen auf dramatische Weise verändert. Ohne Bakterien wären die geselligen Choanos für alle Zeiten Einzelgänger, und die Wurmlarven würden immer unreif bleiben. Beide sind wunderschöne Beispiele dafür, wie gründlich Mikroben den Körperbau von Tieren (oder der Vettern von Tieren) formen können. Und doch handelt es sich hier nicht um Symbiosen im klassischen Sinn. Die Würmer nehmen P-luteo nicht in ihren Körper auf, und offensichtlich interagieren sie mit dem Bakterium auch nicht mehr, wenn sie ausgewachsen sind. Es ist eine vor -übergehende Beziehung. Sie gleichen Touristen, die sich bei Passanten nach dem Weg erkundigen und dann weitergehen. Andere Tiere aber gehen mit Mikroorganismen auch dauerhafte Beziehungen ein, die von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt sind.
Ein solches Tier ist der Plattwurm Paracatenula. Dieses winzige Geschöpf, das auf der ganzen Welt in warmen Meeressedimenten lebt, treibt die Symbiose ins Extrem. Sein Körper ist ungefähr einen Zentimeter lang und besteht zu fast 50 Prozent aus bakteriellen Symbionten. Sie sind im Trophosom verpackt, einem Körperhohlraum, der den Wurm fast zu 90 Prozent ausfüllt. Hinter dem Gehirn befinden sich praktisch nur noch Mikroben oder ihre Lebensräume. Harald Gruber-Vodicka, der diese Plattwürmer erforscht, bezeichnet die Bakterien als Motor und Batterie: Sie versorgen den Wurm mit Energie und speichern sie in Form von Fetten und Schwefelverbindungen. Diese Speicher verleihen dem Plattwurm seine leuchtend weiße Farbe. Außerdem liefern sie den Antrieb für seine ungewöhnlichste Fähigkeit: Paracatenula ist ein Meister der Regeneration.18 Schneidet man ihn in der Mitte durch, werden beide Teile wieder zu vollständig funktionsfähigen Tieren. An der hinteren Hälfte wächst sogar ein neuer Kopf mit einem Gehirn. »Wenn man sie klein hackt, kann man zehn von ihnen bekommen«, sagt Gruber-Vodicka. »Genau das tun sie wahrscheinlich in der Natur. Sie werden immer länger, dann bricht ein Ende ab, und es sind zwei.« Diese Fähigkeit ist vollständig vom Trophosom, den darin lebenden Bakterien und der von ihnen gespeicherten Energie abhängig. Solange ein Bruchteil des Plattwurms eine ausreichende Zahl von Symbionten enthält, kann daraus wieder das ganze Tier werden. Sind zu wenig Symbionten vorhanden, stirbt es. Was das bedeutet, widerspricht der Intuition: Der einzige Teil des Plattwurms, der sich nicht regenerieren kann, ist der bakterienfreie Kopf. Am Schwanz wächst ein neues Gehirn, aber das Gehirn allein bringt keinen Schwanz hervor.
Die Partnerschaft von Paracatenula mit den Mikroorganismen ist typisch für das gesamte Tierreich, Sie und mich eingeschlossen. Wir mögen nicht über die wundersamen Selbstheilungskräfte des Plattwurms verfügen, aber auch wir beherbergen Mikroorganismen im Inneren unseres Körpers und stehen während unseres gesamten Lebens mit ihnen in Wechselbeziehung. Anders als Hadfields Röhrenwürmer, deren Körperbau sich durch Bakterien aus der Umwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt in ihrem Leben verändert, wird unser Körper durch die Bakterien in uns ständig neu aufgebaut und umgeformt. Unsere Beziehung zu ihnen ist kein einmaliger Austausch, sondern ein ständiges Aushandeln.
Wie wir bereits erfahren haben, wirken sich Mikroorganismen auf die Entwicklung des Darms und anderer Organe aus, aber auch nachdem diese Aufgabe erledigt ist, kommen sie nicht zur Ruhe. Den Körper eines Tieres in Gang zu halten, erfordert Arbeit. Oder, mit den Worten von Oliver Sacks: »Nichts ist für das Überleben und die Unabhängigkeit von Lebewesen – seien es nun Elefanten oder Protozoen – von größerer Bedeutung als die Aufrechterhaltung einer gleichbleibenden inneren Umwelt.«19 Und dafür sind Mikroorganismen unentbehrlich. Sie wirken sich auf die Fettspeicherung aus. Sie tragen dazu bei, dass die innere Auskleidung des Darms und die Hautoberfläche sich erneuern können, indem geschädigte und abgestorbene Zellen durch neue ersetzt werden. Sie sorgen für die Unversehrtheit der Blut-Hirn-Schranke, eines Geflechts aus dicht gedrängten Zellen, das Nährstoffe und kleine Moleküle vom Blut ins Gehirn passieren lässt, größeren Molekülen und lebenden Zellen aber den Weg versperrt. Und sie beeinflussen sogar den unaufhörlichen Umbau des Skeletts, in dessen Verlauf frische Knochenmasse eingelagert und altes Material resorbiert wird.20
Nirgendwo ist dieser ständige Einfluss deutlicher zu erkennen als im Immunsystem, den Zellen und Molekülen, die gemeinsam unseren Organismus vor Infektionen und anderen Gefahren schützen. Dieses System ist höllisch kompliziert. Man kann sich eine riesige Wundermaschine à la Rube Goldberg vorstellen, die aus einer scheinbar endlosen Anordnung von Bestandteilen besteht, und diese Bestandteile erzeugen einander, lösen einander aus und geben sich gegenseitig Signale. Nun stellen wir uns die gleiche Maschine als knarrendes, halb fertiges Chaos vor, in dem jedes Einzelteil nur halb ausgebildet, in zu geringer Zahl vorhanden oder falsch verdrahtet ist. So sieht das Immunsystem eines keimfreien Tieres aus. Das ist der Grund, warum ein solches Tier »für Infektionen aller Art anfällig [ist] … das Tier verharrt in einem infantilen Unreifestadium und ist den Gefahren der Welt nicht gewachsen«, wie Theodor Rosebury es formulierte.21
Wie wir daran ablesen können, stellt das Genom eines Tieres nicht alles bereit, das dafür notwendig ist, dass ein ausgereiftes Immunsystem entstehen kann. Es bedarf auch des Beitrag eines Mikrobioms.22 In Hunderten von Fachartikeln wurde an ganz unterschiedlichen biologischen Arten – beispielsweise Mäusen, Tsetsefliegen und Zebrafischen – gezeigt, dass Mikroben in irgendeiner Form dazu beitragen, das Immunsystem zu formen. Sie haben Einfluss auf die Entstehung ganzer Klassen von Immunzellen und auf die Entwicklung von Organen, die solche Zellen herstellen und speichern. Besonders wichtig sind sie im Frühstadium des Lebens, wenn der Immunapparat zum ersten Mal aufgebaut wird und sich auf die große, böse Welt einstellt. Und auch wenn die Maschine erst einmal läuft, stimmen Mikroorganismen ihre Reaktionen weiterhin auf Gefahren ab.23
Ein gutes Beispiel sind Entzündungen: Bei diesen Abwehrreaktionen eilen Immunzellen an den Ort einer Verletzung oder Infektion, was zu Schwellungen, Rötungen und Wärmeentwicklung führt. Sie tragen entscheidend dazu bei, den Körper vor Gefahren zu schützen; ohne Entzündungen wären wir von Infektionen durchsetzt. Zum Problem wird eine Entzündung, wenn sie sich