Winzige Gefährten. Ed Yong. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ed Yong
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783956142482
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Mal hatte damit jemand einen Organismus ausschließlich aufgrund seiner Gene entdeckt. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben.

      Im Jahr 1991 analysierten Pace und sein Student Ed DeLong verschiedene Planktonproben, die sie aus dem Pazifik gefischt hatten. Darin fanden sie eine noch kompliziertere Mikroben-Lebensgemeinschaft als im Yellowstone-Park: fünfzehn neue Bakterienarten, darunter zwei, die zu keiner bekannten Gruppe gehörten. Langsam sprossen an dem kargen Stammbaum der Bakterien neue Blätter, Zweige und manchmal ganze Äste. In den 1980er-Jahren hatten noch alle bekannten Bakterien fein säuberlich in ein Dutzend Hauptgruppen oder Stämme gepasst. Bis 1998 war deren Zahl auf ungefähr vierzig angestiegen. Als ich 2015 mit Pace sprach, sagte er mir, wir seien jetzt bei ungefähr hundert, und rund achtzig davon seien noch nie in Kulturen gezüchtet worden. Einen Monat später berichtete Jill Banfield über die Entdeckung von fünfunddreißig neuen Stämmen allein in einer einzigen grundwasserführenden Schicht in Colorado.37

      Nachdem die Mikrobiologen jetzt vom Joch der Bakterienkulturen und Mikroskopie befreit waren, konnten sie eine viel umfassendere Bestandsaufnahme der Mikroorganismen auf unserem Planeten in Angriff nehmen. »Das war immer unser Ziel«, sagt Pace. »Die Ökologie der Mikroorganismen war zu einer todgeweihten Wissenschaft geworden. Die Leute gingen hinaus, drehten einen Stein um, fanden ein Bakterium und glaubten, es sei charakteristisch für alles, was es dort draußen gibt. Das war dumm. Als wir zum ersten Mal anders vorgegangen sind, haben wir die Tür zur natürlichen Welt der Mikroorganismen aufgestoßen. Ich will, dass das auf meinem Grabstein steht. Es war ein großartiges Gefühl, und das ist es bis heute geblieben.«

      Man brauchte sich jetzt auch nicht mehr auf die 16S-rRNA zu beschränken. Sehr schnell entwickelten Pace, DeLong und andere neue Methoden, um alle Gene der Mikroorganismen in einem Klumpen Erde oder einem Becher Wasser zu analysieren.38 Sie gewannen die DNA aus allen Mikroorganismen von einer Stelle, zerschnitten sie in kleine Stücke und sequenzierten sie alle auf einmal. »Wir haben jedes verdammte Gen bekommen, das wir haben wollten«, sagt Pace. Schon anhand der 16S-rRNA konnte man sehen, welche Arten vorhanden waren, darüber hinaus aber konnte man jetzt auch herausfinden, welche Fähigkeiten die Arten an einem bestimmten Ort besaßen. Dazu sucht man beispielsweise nach Genen für die Vitaminsynthese, für die Verdauung von Ballaststoffen oder für Antibiotikaresistenzen.

      Die neue Methodik versprach eine Revolution der Mikrobiologie; man brauchte nur noch einen einprägsamen Namen. Einen solchen schlug Jo Handelsman 1998 vor: Metagenomik, die Genomforschung an Lebensgemeinschaften.39 »Die Metagenomik ist vielleicht der wichtigste Durchbruch in der Mikrobiologie seit der Erfindung des Mikroskops«, sagte sie einmal. Endlich war man auf dem Weg, das Leben auf der Erde in seinem ganzen Umfang zu verstehen. Handelsman und andere erforschten nun Mikroorganismen aus den Böden von Alaska, den Graslandschaften in Wisconsin, den säurehaltigen Abwässern eines Bergbaubetriebs in Kalifornien, dem Wasser der Sargassosee, dem Körper von Tiefseewürmern und dem Darm von Insekten. Und natürlich wandten manche Mikrobiologen sich nach dem Vorbild Leeuwenhoeks auch sich selbst zu.

      Wie Dubos und viele andere, die sich irgendwann in Bakterien verliebt hatten, so hatte auch David Relman ursprünglich vorgehabt, sie umzubringen. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er sich als klinischer Mediziner mit Infektionskrankheiten beschäftigt. Ende der 1980er-Jahre identifizierte er mit Pace’ neuer Methode unbekannte Mikroorganismen, die hinter rätselhaften Erkrankungen des Menschen steckten. Anfangs war er zutiefst frustriert, weil jede Gewebeprobe, die vielleicht einen neuen Krankheitserreger beherbergen konnte, von dem normalen Mikrobiom überschwemmt war. Diese Bewohner waren eine lästige Ablenkung – bis Relman erkannte, dass sie auch für sich genommen interessant waren. Warum sollte man nicht diese Mikroorganismen anstelle der pathogenen Minderheit charakterisieren?

      So kam es, dass Relman eine große Tradition begründete, in der Mikrobiologen ihre eigenen Mikrobiome sequenzierten. Als Erstes bat er seinen Zahnarzt, ein wenig Belag aus seinen Zahnfleischtaschen zu kratzen und in ein keimfreies Sammelröhrchen fallen zu lassen. Er nahm die Masse mit ins Labor und entschlüsselte ihre DNA. Es hätte zu nichts führen müssen. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Mund bereits der bestuntersuchte Mikroben-Lebensraum im menschlichen Körper war. Schon Leeuwenhoek hatte ihn sich angesehen. Rosebury hatte ihn untersucht. Mikrobiologen hatten fast fünfhundert Bakterienstämme aus seinen verschiedenen Nischen in Kulturen gezüchtet. Wenn irgendein Körperteil immun gegen neue Entdeckungen hätte sein können, dann der Mund. Und doch fand Relman an seinem eigenen Zahnfleisch ein Spektrum von Bakterienarten, das weitaus größer war als alles, was er aus denselben Proben heranzüchten hätte können.40 Selbst dort, in den bekanntesten Lebensräumen des menschlichen Körpers, wartete also noch eine atemberaubende Zahl unbekannter Arten auf ihre Entdeckung. Genauso erging es Relman 2005 auch mit dem Darm. Er sammelte Proben von verschiedenen Orten im Verdauungstrakt dreier Freiwilliger und identifizierte darin fast vierhundert Bakterienarten sowie ein Archaeon – und 80 Prozent davon waren für die Wissenschaft neu.41 Mit anderen Worten: Dubos hatte mit seinen Vermutungen recht gehabt. Die Mikrobiologen seiner Zeit hatten noch kaum an der Oberfläche der normalen menschlichen Bakterienflora gekratzt.

      Das alles änderte sich Anfang der 2000er-Jahre: Jetzt machten Wissenschaftler überall im menschlichen Körper Sequenz-Bestandsaufnahmen. Jeff Gordon – ein Pionier, der uns in einem späteren Kapitel wieder begegnen wird – wies nach, dass Mikroorganismen die Fettspeicherung und die Entstehung neuer Blutgefäße in unserem Körper steuern und dass fettleibige Menschen in ihrem Darm andere Mikroorganismen haben als schlanke.42 Relman selbst bezeichnete die Mikrobiome jetzt als »lebenswichtiges Organ«. Die Wegbereiter lockten Mitarbeiter aus allen Fachgebieten der Biologie an, erregten die Aufmerksamkeit der Publikumspresse und erhielten nun Millionenbeträge zur Finanzierung großer, internationaler Projekte.43 Jahrhundertelang hatte das Mikrobiom des Menschen sein Dasein an den Rändern der biologischen Wissenschaft gefristet, nur Rebellen und Bilderstürmer hatten sich für es eingesetzt. Jetzt war es zu einem Teil des Mainstreams geworden. Seine Geschichte ist eine Geschichte darüber, wie Gedanken über den menschlichen Organismus und über wissenschaftliche Fragen von den Rändern in den Mittelpunkt wandern.

      Im Artis, dem königlichen Zoo in Amsterdam, steht gleich hinter dem Eingang ein zweistöckiges Gebäude, das auf seiner Seitenwand das Bild einer riesigen, schreitenden Figur zeigt. Sie besteht aus kleinen, flauschigen Kugeln in Orange, Beige, Gelb und Blau. Es ist die Darstellung des menschlichen Mikrobioms, und sie lädt die Besucher mit einer freundlichen Handbewegung ins Micropia ein – in das erste Museum der Welt, das ausschließlich den Mikroorganismen gewidmet ist.44

      Das Museum wurde im September 2014 nach einer Entwicklungszeit von zwölf Jahren und einem Kostenaufwand von 10 Millionen Euro eröffnet. Dass es sich ausgerechnet in den Niederlanden befindet, passt. Im nur 65 Kilometer entfernten Delft machte Leeuwenhoek die Welt zum ersten Mal mit dem verborgenen Reich der Bakterien bekannt. Heute ist ein Nachbau eines seiner brillianten Mikroskope das Erste, was ich sehe, nachdem ich die Eintrittskartenkontrolle von Micropia hinter mir habe. Es steht – bescheiden, täuschend einfach und auf dem Kopf stehend montiert – in einem Glasgefäß. Darum herum sind Proben von Dingen, die Leeuwenhoek hätte untersuchen können, unter anderem Pfefferaufgüsse, Entengrütze von einem Teich in der Nähe und Zahnbeläge.

      Von dort begebe ich mich zusammen mit einem Freund und einer kleinen Familie in einen Aufzug. Als wir nach oben blicken, sehen wir unser eigenes Spiegelbild in einem Video, das an der Decke gezeigt wird. Während der Lift aufwärts fährt, zoomt die Kamera auf dramatische Weise auf unsere Gesichter; sie scheint immer näher zu kommen, zeigt Milben in den Wimpern, Hautzellen, Bakterien und schließlich auch Viren. Als die Türen sich in der zweiten Etage öffnen, sehen wir ein Schild aus kleinen Lichtpunkten, die sanft schimmern wie eine lebende Kolonie. »Wenn man ganz nah hinsieht, eröffnet sich eine neue Welt, schöner und spektakulärer als alles, was man sich jemals vorgestellt hätte«, steht dort. »Willkommen in Micropia.«

      Einen ersten Eindruck von dieser neuen Welt erhalten wir sofort durch eine Reihe von Mikroskopen. Sie richten sich auf Mückenlarven, Wasserflöhe, Fadenwürmer, Schleimpilze, Algen und grüne Teichbakterien. Letztere sind 200-fach vergrößert, und ich wundere mich bei dem Gedanken, dass Leeuwenhoeks selbst gebautes Mikroskop aus der unteren Etage das Gleiche leistete.