Winzige Gefährten. Ed Yong. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ed Yong
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Математика
Год издания: 0
isbn: 9783956142482
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alles sind bislang noch Hypothesen. »Wir müssen das Duft-Mikrobiom abwandeln und herausfinden, ob sich dann auch das Duftprofil verändert«, sagt Theis. »Anschließend müssen wir nachweisen, dass die Hyänen auf eine solche Duftveränderung aufmerksam werden und darauf reagieren.« Mittlerweile haben andere Wissenschaftler ähnliche Muster auch in den Duftdrüsen und im Urin weiterer Säugetiere gefunden, so bei Elefanten, Erdmännchen, Dachsen, Mäusen und Fledermäusen. Der Duft eines alten Erdmännchens unterscheidet sich vom Eau de Jungchen. Der Gestank eines Elefantenmännchens ist anders als der eines Weibchens.

      Und dann sind da noch wir. Die Achselhöhle eines Menschen ist der Duftdrüse einer Hyäne nicht unähnlich – warm, feucht und reich an Bakterien. Jede Mikrobenspezies schafft ihre eigenen Duftnoten. Corynebacterium erzeugt aus Schweiß eine Substanz, die wie Zwiebeln riecht, und die Produkte, die es aus Testosteron herstellt, duften je nach den Genen dessen, der daran schnuppert, nach Vanille, Urin oder gar nichts. Sind diese Düfte nützliche Signale? Ganz offensichtlich! Das Mikrobiom der Achselhöhle ist erstaunlich stabil – und die Gerüche unserer Achselhöhle auch. Jeder Mensch hat seine eigene, charakteristische Duftnote, und in mehreren Experimenten konnten Freiwillige verschiedene Menschen am Geruch ihrer T-Shirts unterscheiden. Es gelang ihnen sogar, eineiige Zwillinge anhand ihres Geruchs also solche zu erkennen. Vielleicht beziehen auch wir wie die Hyänen manche Informationen über andere Menschen, indem wir die Nachrichten erschnuppern, die von unseren Mikroorganismen ausgesandt werden. Und das gibt es nicht nur bei Säugetieren. Die Darmbakterien der Wüstenheuschrecken produzieren Teile des »Versammlungspheromons«, das die ansonsten allein lebenden Insekten zur Bildung von Schwärmen veranlasst, die den Himmel verdunkeln können. Deutsche Schaben werden von ihren Darmbakterien dazu veranlasst, sich auf ekelerregende Weise um die Exkremente ihrer Artgenossen zu versammeln. Und die großen Insekten der Spezies Thasus californicus, die im Südwesten Nordamerikas zu Hause ist, verlassen sich auf ein von ihren Symbionten hergestelltes Alarm-Pheromon, mit dem sie sich gegenseitig vor Gefahren warnen.32

      Warum lassen Tiere solche chemischen Signale von Mikroorganismen produzieren? Theis nennt dafür den gleichen Grund wie Rawls, King und Hadfield: Es ist unvermeidlich. Alle Oberflächen sind von Mikroben bevölkert, die flüchtige Substanzen abgeben. Wenn sich in solchen chemischen Hinweisen eine Eigenschaft widerspiegelt, die zu kennen nützlich ist – wie beispielsweise das Geschlecht, die Kraft oder die Fruchtbarkeit –, entwickeln sich bei dem Wirtstier unter Umständen Duftorgane, die diese besonderen Mikroorganismen ernähren und beherbergen. Irgendwann verwandeln sich dann die unwillkürlichen Hinweise in vollständig ausgeprägte Signale. Wenn Mikroorganismen solche Nachrichten produzieren, die durch die Luft weitergegeben werden, können sie also das Verhalten von Tieren beeinflussen, die weit von ihrem eigentlichen Wirt entfernt sind. Und wenn das stimmt, sollte es uns nicht verwundern zu hören, dass sie auch auf kürzere Entfernung das Tierverhalten bestimmen können.

      Im Jahr 2001 spritzte der Neurowissenschaftler Paul Patterson trächtigen Mäusen eine Substanz, die eine Virusinfektion nachahmt und eine Immunantwort auslöst. Die Mäuse brachten gesunde Jungtiere zur Welt, aber als die Kleinen zu ausgewachsenen Tieren heranwuchsen, bemerkte Patterson in ihrem Verhalten interessante Besonderheiten. Mäuse betreten von Natur aus nur widerwillig offene Flächen, bei diesen Mäusen aber war diese Tendenz besonders stark ausgeprägt. Außerdem ließen sie sich leicht durch laute Geräusche verwirren. Sie kraulten sich immer wieder selbst oder bemühten sich wiederholt, einen Kieselstein zu vergraben. Sie waren weniger kommunikativ als ihresgleichen und mieden soziale Kontakte. Ängstlichkeit, Bewegungswiederholungen, soziale Probleme: Patterson erkannte bei den Mäusen einen Anklang an zwei Gesundheitsstörungen des Menschen, nämlich Autismus und Schizophrenie. Die Ähnlichkeiten kamen nicht ganz unerwartet. Patterson hatte gelesen, dass schwangere Frauen, die an schweren Infektionen wie Grippe oder Masern leiden, häufiger Kinder mit Autismus und Schizophrenie zur Welt bringen. Deshalb kam ihm der Gedanke, dass die Immunantwort der Mutter sich in irgendeiner Form auf die Gehirnentwicklung beim Baby auswirken könnte. Er wusste nur noch nicht, wie.33

      Der Groschen fiel erst einige Jahre später, als Patterson mit seinem Kollegen Sarkis Mazmanian, der die entzündungshemmende Wirkung des Darmbakteriums B-frag entdeckt hatte, beim Mittagessen saß. Gemeinsam erkannten die beiden Wissenschaftler, dass sie zwei Seiten derselben Medaille betrachtet hatten. Mazmanian hatte gezeigt, dass die Darmbakterien das Immunsystem beeinflussen, und Patterson hatte festgestellt, dass das Immunsystem sich auf das entstehende Gehirn auswirkt. Nun wurde ihnen klar, dass Pattersons Mäuse noch etwas anderes mit autistischen Kindern gemeinsam hatten: Darmprobleme. Sowohl die einen als auch die anderen litten häufiger an Durchfall und anderen Verdauungsstörungen, und in beiden waren ungewöhnliche Gemeinschaften von Darm-Mikroorganismen zu Hause. Vielleicht, so überlegten die beiden Wissenschaftler, wirkten diese Mikroorganismen sich sowohl bei Mäusen als auch bei Kindern irgendwie auf das Verhalten aus? Und würde sich vielleicht ein Verhalten ändern, wenn man die Darmprobleme in Ordnung brachte?

      Um diesen Gedanken zu überprüfen, fütterten die beiden Pattersons Mäuse mit B-frag.34 Das hatte verblüffende Folgen: Die Nage tiere wurden plötzlich neugieriger, ließen sich weniger leicht beunruhigen, neigten weniger zu Bewegungswiederholungen und waren kommunikativer. Zwar zögerten sie immer noch, sich anderen Mäusen zu nähern, aber in allen übrigen Aspekten hatte B-frag die Veränderungen, die auf die Immunantwort der Mutter zurückzuführen waren, rückgängig gemacht.

      Aber wie? Und warum? Die vielleicht stichhaltigste Vermutung: Indem die Wissenschaftler bei den schwangeren Müttern eine Virusinfektion nachahmten, hatten sie eine Immunantwort ausgelöst, die den Nachkommen einen übermäßig durchlässigen und mit einer ungewöhnlichen Kombination von Mikroorganismen besiedelten Darm beschert hatte. Die Mikroben produzierten Substanzen, die ins Blut gelangten und ins Gehirn wanderten, wo sie untypische Verhaltensweisen verursachten. Der Hauptschuldige ist dabei ein Giftstoff namens 4-ethylphenylsulfat (4EPS), der bei ansonsten gesunden Tieren Angstzustände auslösen kann. Das B-frag, das die Mäuse geschluckt hatten, dichtete ihren Darm ab und blockierte den Übergang von 4EPS (und anderen Substanzen) ins Gehirn, sodass die atypischen Symptome verschwanden.

      Patterson starb 2014, aber Mazmanian führt die Arbeiten seines Freundes bis heute weiter. Langfristig will er ein Bakterium entwickeln, das Menschen einnehmen können, um damit einige besonders schwere Symptome des Autismus unter Kontrolle zu bringen. Bei diesem Bakterium könnte es sich um B-frag handeln: Bei den Mäusen erfüllt es seine Funktion und es ist zufällig auch der Mikroorganismus, der im Darm von Menschen mit Autismus am stärksten Mangelware ist. Eltern autistischer Kinder, die etwas über Mazmanians Arbeit lesen, fragen regelmäßig per E-Mail an, wo sie das Bakterium bekommen können. Viele solche Eltern geben ihren Kindern bereits probiotische Produkte gegen die Darmprobleme, und manche von ihnen behaupten, sie hätten auch beim Verhalten eine Verbesserung beobachtet. Mazmanian will die Einzelfallberichte jetzt mit handfesten klinischen Befunden untermauern. Er ist optimistisch.

      Andere sind skeptischer. Die naheliegendste Kritik formuliert die Wissenschaftsautorin Emily Willingham so: »Mäuse haben keinen Autismus; dieser ist ein neurobiologisches Konstrukt der Menschen, das zum Teil durch die soziale und kulturelle Wahrnehmung dessen geprägt wird, was man für normal hält.«35 Gleicht eine Maus, die immer wieder einen Kieselstein vergräbt, wirklich einem Kind, das vorund zurückschaukelt? Ist eine geringere Häufigkeit der Quiekgeräusche das Gleiche, als wenn man nicht mit anderen Menschen sprechen kann? Flüchtig besehen springen die Ähnlichkeiten ins Auge. Blickt man genauer hin, sieht man vielleicht Parallelen zu anderen Störungen; Pattersons Mäuse wurden sogar ursprünglich zu dem Zweck gezüchtet, nicht den Autismus, sondern die Schizophrenie nachzubilden. Andererseits deutet ein Experiment, das Mazma nians Arbeitsgruppe kürzlich anstellte, auf eine Verbindung zwischen den beiden Gruppen von Verhaltensweisen hin. Sie übertrugen Mikroorganismen aus dem Darm autistischer Kinder in Mäuse und stellten fest, dass sich bei den Nagetieren die gleichen Besonderheiten entwickelten, die auch Patterson beobachtet hatte, darunter Verhaltenswiederholungen und soziale Zurückgezogenheit.36 Die Vermutung liegt also nah, dass die Mikroorganismen zumindest teilweise die Ursache solcher Verhaltensweisen sind. »Niemand würde behaupten wollen, man könne den Autismus in einem Mausmodell nachvollziehen«, sagt Mazmanian nachdrücklich. »Natürlich hat die Sache ihre Grenzen, aber sie ist, wie sie ist.«