Nach Alegados Vermutung sind alle diese Substanzen ein Zeichen dafür, dass Nahrung in der Nähe ist. In der Gruppe können Choanos die Bakterien besser einfangen als alleine, und so tun sie sich zusammen, wenn sie bemerken, dass Bakterien nicht weit sind. »Ich glaube, die Choanos sind stets auf der Hut«, sagt Alegado. »Sie können nur langsam schwimmen, und die Bacteroidetes sind ein Hinweis darauf, dass sie sich in ein Umfeld mit guten Ressourcen und Nahrung begeben. Dann können sie sich auch dazu entschließen, eine Rosette zu bilden.«
Was hat das alles zu bedeuten? Trieben Bakterien die Entstehung der Tiere voran, weil sie Stimuli lieferten, die unsere einzelligen Vorfahren dazu veranlassten, vielzellige Kolonien zu bilden? King rät zur Vorsicht. Die heutigen Choanos sind nicht unsere Vorfahren, sondern unsere Vettern. Aus ihrem Verhalten abzuleiten, was die vorzeitlichen Choanos taten, wäre ein großer Gedankensprung, ganz zu schweigen davon, wie sie auf vorzeitliche Mikroorganismen reagierten. Zu solchen Behauptungen ist King noch nicht bereit. Zunächst einmal will sie herausfinden, ob auch moderne Tiere genauso auf Bakterien reagieren. Wenn das der Fall ist – wenn die gleichen Bakterien mithilfe der gleichen Moleküle die Entwicklung von Choanos wie auch von Tieren lenken –, würde dies nachdrücklich für den Gedanken sprechen, dass wir es mit einem alten Phänomen zu tun haben, das schon für unsere Ursprünge eine Rolle spielte. »Dass es in den Ozeanen, in denen sich die ersten Tiere entwickelten, massenhaft Bakterien gab, ist, glaube ich, unumstritten«, sagt King. »Sie waren vielgestaltig. Sie beherrschten die Welt, und die Tiere mussten mit ihnen zurechtkommen. Da ist der Gedanke, dass manche von Bakterien produzierten Moleküle die Entwicklung der ersten Tiere beeinflusst haben könnten, nicht besonders weit hergeholt.« Nein, weit hergeholt ist er nicht – vor allem wenn man weiß, was sich noch heute in Pearl Harbor abspielt.
Am Morgen des 7. Dezember 1941 flog ein großes Geschwader japanischer Kampfflugzeuge einen Überraschungsangriff auf den US-Marinestützpunkt Pearl Harbor auf Hawaii. Eines der ersten Opfer war das amerikanische Schlachtschiff Arizona; als es sank, riss es mehr als Tausend Offiziere und Besatzungsmitglieder mit in die Tiefe. Auch die anderen sieben Schlachtschiffe im Hafen wurden entweder zerstört oder schwer beschädigt, außerdem achtzehn weitere Schiffe und dreihundert Flugzeuge. Heute ist der Hafen ein ruhigerer Ort. Er gilt zwar nach wie vor als wichtiger Marinestützpunkt und ist weiterhin Liegeplatz mehrerer großer Schiffe, die größte Gefahr geht aber nicht mehr vom Himmel aus, sondern vom Meer.
Was mit den Schiffen geschieht, kann man sehen, wenn man irgendein beliebiges Stück Metall ins Wasser wirft. Innerhalb weniger Stunden wachsen darauf die ersten Bakterien. Dann folgen häufig die Algen, und vielleicht auch Muscheln oder Seepocken. Nach einigen Tagen jedoch tauchen weiße Röhren auf. Sie sind winzig klein – jede hat nur eine Länge von einigen Zentimetern und wenige Millimeter Durchmesser. Schon bald aber sind es Hunderte, dann Tausende und schließlich Millionen. Am Ende sieht die ganze Oberfläche aus wie ein gefrorener Langflorteppich. Die Röhren bilden sich überall: auf Felsen, an Pfeilern, Fischkäfigen und Schiffen. Wenn ein Flugzeugträger mehrere Monate im Hafen liegt, bilden die Röhren an seinem Rumpf am Ende mehrere Schichten von einigen Zentimetern Dicke. Der Fachausdruck lautet Fouling.14 Laien nennen es »extrem nervig«. Die Marine schickt manchmal Taucher unter die Schiffe, damit sie Schiffsschrauben und andere empfindliche Teile in Kunststoffsäcke hüllen, sodass die Röhren sie nicht blockieren können.
Jeder dieser weißen Zylinder beherbergt ein Tier, von dem er auch hergestellt wird. Marineangehörige nennen es »den Schnörkelwurm«. Der Meeresbiologe Michael Hadfield von der University of Hawaii kennt den Wurm unter dem Namen Hydroides elegans, zu Deutsch Kalkröhrenwurm. Er wurde erstmals im Hafen von Sydney gesichtet und beschrieben und ist seitdem im Mittelmeer, in der Karibik sowie an den Küsten von Japan und Hawaii aufgetaucht – immer in Buchten mit warmem Wasser und Schiffen. Indem er sich an von Menschen gemachte Schiffsrümpfe klammert, hat dieser meisterhafte blinde Passagier die ganze Welt besiedelt.
Hadfield erforscht die Schnörkelwürmer seit 1990 im Auftrag der Marine. Zuvor war er bereits Experte für Larven, die im Meer leben, und für die Navy sollte er verschiedene Anstrichfarben testen, um festzustellen, ob eine davon die Würmer abwehren konnte. Der eigentliche Trick aber, so dachte er, wäre, herauszufinden, warum die Würmer überhaupt den Entschluss fassen, sich niederzulassen. Wie kommt es, dass sie plötzlich an Schiffsrümpfen auftauchen?
Das ist eine uralte Frage. Armand Marie Leroi schreibt in seiner großartigen Aristoteles-Biografie: »Ein Marinegeschwader, sagt [Aristoteles], ankerte einmal vor Rhodos und es wurde eine Menge irdenes Geschirr über Bord geworfen. In den Töpfen sammelten sich Schlamm und dann lebendige Austern. Da Austern sich nicht auf Töpfe oder überhaupt bewegen können, müssen sie aus dem Schlamm entstanden sein.«15 Diese Idee der Spontanzeugung war jahrhundertelang in Mode, aber sie ist hoffnungslos falsch. Hinter dem plötzlichen Auftauchen von Austern und Röhrenwürmern steckt eine viel banalere Ursache. Die Tiere machen wie Korallen, Seeigel, Muscheln und Krebse ein Larvenstadium durch, und als Larven treiben sie durch das offene Wasser, bis sie irgendwo hängen bleiben. Die Larven sind mikroskopisch klein, außerordentlich zahlreich (möglicherweise bis zu hundert in einem Tropfen Meerwasser) und gleichen in nichts ihrem ausgewachsenen Gegenstück. Ein junger Seeigel ähnelt mehr einem Federball als dem Nadelkissen, zu dem er später wird. Und eine Larve von H. elegans ähnelt weniger dem langen, von einer Röhre umhüllten Wurm, sondern eher einem Wanddübel mit Augen. Man mag kaum glauben, dass es sich um dasselbe Tier handelt.
Irgendwann werden die Larven sesshaft. Sie legen ihre jugendliche Wanderlust ab und bauen ihren Körper so um, dass er die Form des ortsfesten, ausgewachsenen Tieres annimmt. Dieser Prozess, die Metamorphose, ist der wichtigste Augenblick in ihrem Leben. Früher vermutete man, dass er sich nach dem Zufallsprinzip abspielt, das heißt, dass die Larven sich an beliebigen Orten niederlassen und überleben, wenn sie Glück haben und an einen guten Standort geraten. In Wirklichkeit gehen sie aber absichtsvoll vor und sind wählerisch. Um den besten Ort für die Metamorphose zu finden, richten sie sich nach Anhaltspunkten wie chemischen Spuren, Temperaturgradienten und sogar Geräuschen.
Wie Hadfield schon bald herausfand, lässt sich H. elegans von Bakterien und insbesondere von Biofilmen anlocken, den schleimigen Matten aus dicht gedrängten Bakterien, die sich auf Oberflächen unter Wasser sehr schnell bilden. Findet eine Larve einen solchen Biofilm, schwimmt sie an den Bakterien entlang und drückt ihr Gesicht dagegen. Schon nach wenigen Minuten ist sie verankert: Dazu presst sie einen Schleimfaden aus dem Schwanz und scheidet rund um ihren Körper eine durchsichtige »Socke« aus. Nachdem sie sich auf diese Weise befestigt hat, beginnt ihre Veränderung. Sie verliert die kleinen Ruderhaare, mit denen sie zuvor im Wasser vorangekommen ist. Sie wird länger. Um den Kopf wächst ein Ring aus Tentakeln, mit denen sie nach Nahrungsbrocken greifen kann. Und sie beginnt, die harte Röhre aufzubauen. Mittlerweile ist sie ausgewachsen, und fortbewegen wird sie sich nie mehr. Für diese Verwandlung sind Bakterien eine unabdingbare Voraussetzung. Eine saubere, keimfreie Glasflasche ist für H. elegans ein Nimmerland, ein Ort der ewigen Unreife.
Die Würmer sprechen nicht auf irgendwelche beliebigen Mikroorganismen an. Von den vielen Stämmen, die in den Gewässern vor Hawaii vorkommen, können nach Hadfields Befunden nur wenige die Metamorphose in Gang setzen, und nur ein einziger tut es sehr energisch. Sein Name ist ein wahrer Zungenbrecher: Pseudoalteromonas luteoviolacea. Glücklicherweise nennt Hadfield ihn einfach P-luteo. Mehr als jede andere Mikroorganismenart kann diese die Wurmlarven hervorragend in ausgewachsene Würmer verwandeln. Ohne die Bakterien würden die Würmer ihren ausgereiften Zustand niemals erreichen.16
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