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Im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts findet sich ebenfalls die Besonderheit, dass Verwaltungshandeln von der ordentlichen Gerichtsbarkeit – wiederum den Strafgerichten – überprüft wird.[126] Hier wird letztlich an die Regelung des § 23 EGGVG von 1877 angeknüpft.[127] 1949 war dabei durchaus umstritten, ob die Verwaltungsgerichte oder die Strafgerichte für das „Verwaltungsunrecht“ zuständig sein sollten. Den Ausschlag für die Strafgerichte gaben letztlich die Ähnlichkeit zwischen Ordnungswidrigkeiten und strafrechtlichen Tatbeständen in ihrem Aufbau und in ihrer rechtlichen Behandlung. Den Verwaltungsgerichten sei die strafrechtsähnliche Materie wesensfremd, und die gefestigte strafrechtliche Rechtsprechung könne durch eine abweichende, vom Verwaltungsrecht beeinflusste Rechtsprechung auf dem Gebiet der Ordnungswidrigkeiten gefährdet werden. Und schließlich sei die Organisation der Verwaltungsgerichtsbarkeit gar nicht in der Lage, die große Zahl der Bußgeldbescheide, die angefochten werden, zu bewältigen.[128]
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Die Übernahme verwaltungsgerichtlicher Funktionen durch die ordentliche Gerichtsbarkeit ist in Deutschland kein lediglich historisch geprägtes Phänomen. Für die jüngere Zeit lässt sich fast schon von einem problematischen Trend sprechen,[129] Verfahren insbesondere im Bereich des Rechts der Regulierungs- und Infrastrukturverwaltung den Zivilgerichten zuzuweisen. Konkrete Beispiele für die Zuweisung originär verwaltungsrechtlicher Materien an die ordentlichen Gerichte sind Baulandsachen, dienstgerichtliche Verfahren und Energiewirtschaftsfälle. Auch das Kartellrecht und das Vergaberecht sind bei Lichte besehen verwaltungsrechtliche Materien, die insoweit unzutreffend bei den ordentlichen Gerichten verortet sind.[130]
bb) Verwaltungsgerichtliche Funktionen und Verfassungsgericht
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Durch das BVerfG werden verwaltungsgerichtliche Funktionen, mit Ausnahme der eher hypothetischen Funktion als Dienstgericht im Falle des Entzugs des Richteramtes am BVerfG ohne Zustimmung des betroffenen Richters nach § 105 BVerfGG, nicht wahrgenommen.
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Die Überschneidungen der Wirkungskreise von Verfassungs- und Verwaltungsgerichtsbarkeit rühren von der Bedeutung des Verfassungsrechts für die Verwaltungsgerichte. Zwar insistiert das BVerfG, dass es sich – auch gegenüber der Verwaltungsgerichtsbarkeit – nicht als Superrevisionsinstanz versteht und auf spezifisches Verfassungsrecht beschränken will. Gerade im Bereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist die Grenzlinie indessen undeutlich und das BVerfG de facto sehr wohl in der Rolle der letzten Instanz, weil das Verwaltungsrecht sich sehr stark grundrechtsgeprägt entwickelt hat.[131]
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 4. Verwaltungsgerichtsbarkeit und neue Formen der Streitbeilegung
4. Verwaltungsgerichtsbarkeit und neue Formen der Streitbeilegung
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Gerichte lösen Konflikte durch Entscheidung. In jüngerer Zeit ist die Einsicht gewachsen, dass verhandelte Konfliktlösungen gegenüber der Dezision zahlreiche Vorteile aufweisen. Dies verbindet sich mit dem Aufkommen alternativer Streitbeilegungsmechanismen vielfältiger Art, zugleich werden auch im etablierten Gerichtssystem bestehende Wege der alternativen Streitbeilegung, etwa mittels Vergleich, gefördert.
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Die Verwaltungsgerichtsbarkeit erscheint mit Blick auf die besondere Konfliktstruktur zwischen in aller Regel übermächtigem Staat und alleine auf Recht und Gericht verwiesenem Bürger für eine ausgehandelte Konfliktlösung nur auf den ersten Blick nicht besonders geeignet. Der Staat hat zwar einerseits mit seiner Verpflichtung auf ein Gemeinwohl und Recht und Gesetz begrenzte Verhandlungsspielräume, andererseits eben auch Gestaltungsspielräume insbesondere in den zahlreichen Fällen etwa von Ermessensentscheidungen. Gerade im Bereich komplexer Planungsentscheidungen haben sich Mediationsverfahren als geeignetes Mittel für befriedende, verschiedenste Interessen und Gesichtspunkte berücksichtigende Lösungen erwiesen.
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Nachdem sogar im Strafrecht mit seinen besonders strengen Anforderungen an Regelbindung mit prozessualen Absprachen gearbeitet wird, verwundert es nicht, dass auch im Verwaltungsprozess (Vergleiche) und außerhalb des Verwaltungsprozesses (Mediation) Ansätze für Konfliktlösungen jenseits der richterlichen Entscheidung bestehen.[132] Die Diskussion dazu hält seit drei Jahrzehnten an.[133] Sicherlich bestehen hier je nach Teilrechtsgebiet nach wie vor unterschiedliche Rahmenbedingungen.
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Mit dem Inkrafttreten des Mediationsgesetzes 2012[134] hat der Bundesgesetzgeber eine Rechtsgrundlage für die gerichtsinterne Mediation auch bei den Verwaltungsgerichten geschaffen,[135] deren Zulässigkeit im Bereich der Verwaltungsgerichte bis dahin nicht unumstritten war.[136]
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Zahlreiche Richterinnen und Richter haben mittlerweile eine zusätzliche Qualifikation als Mediatoren erworben.[137] Nicht selten wird berichtet, dass diese Qualifikation zugleich der originären Rechtsprechungstätigkeit zugutekommt.
§ 129 Verwaltungsgerichtsbarkeit in Deutschland › II. Rollen und Funktionen der Verwaltungsgerichtsbarkeit › 5. Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Deutungsangebote in der Dogmatik und Theorie
5. Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit und Deutungsangebote
in der Dogmatik und Theorie
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In Deutschland ist das Selbstverständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit möglicherweise aus Gründen des föderalen Umfelds heterogener als es zunächst scheint.
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Wo beispielsweise in Bayern durch die Karrierewege eine gewisse Nähe zwischen Verwaltung und Verwaltungsgerichtsbarkeit gepflegt wird, ist in anderen Ländern, die einen Wechsel zwischen der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit fördern oder gar verlangen, ein eigenes Selbstverständnis der Verwaltungsrichter möglicherweise geringer ausgeprägt. Da, wo Verwaltungsrichter ausschließlich für die Verwaltungsgerichtsbarkeit rekrutiert werden und auch nicht während ihrer Laufbahn in die Verwaltung wechseln müssen, dürfte ein bestimmtes Selbstverständnis am ausgeprägtesten sein. Zugleich ist freilich denkbar, dass sich ein besonderes Selbstverständnis der Gerichtsbarkeit gerade dann besonders ausprägt, wenn man die „andere Seite“ – also insbesondere die Verwaltung, aber auch andere Gerichtsbarkeiten oder allgemein staatliche Tätigkeiten – aus eigener Anschauung kennengelernt hat. Letztlich kommt es hier auf die einzelnen Karrierewege und Richterpersönlichkeiten an.
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Karrierestationen von Verwaltungsrichtern können vor oder nach der Tätigkeit am Verwaltungsgericht beispielsweise sein: Zivilgerichte, Strafgerichte, Staatsanwaltschaft, Sozialgerichte, Ministerialverwaltung, Parlamentsverwaltung, Fraktions- oder Abgeordnetenmitarbeiter, Prüfungsverwaltung in den Justizprüfungsämtern, wissenschaftliche Mitarbeiter am BVerfG oder BVerwG, internationale Organisationen.
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