Dick Pryor, der Lover von Janis Holden, würde demnächst allabendlich auf einer Broadway-Bühne in einem historischen Musical zu sehen sein.
Die Proben waren in den letzten Wochen auf Hochtouren gelaufen, und heute Abend war Vorpremiere. Pryor war zuversichtlich, dass sich das neue Stück durchsetzen würde. Er fühlte sich wohl im Ensemble.
Jeder Künstler gab sein Bestes, damit dem Musical ein anhaltender Erfolg beschieden war, denn Flops verschwinden sehr schnell wieder vom Spielplan. Oft über Nacht. Egal, wie viel Geld die Produktion im Vorfeld verschlungen hatte.
Die Vorpremiere war ein Probelauf, in dem es keine Pannen mehr geben durfte.
Während Dick Pryor seinen Part meisterhaft spielte, schlich der Maskierte in die Garderobe des angehenden Musical-Stars und versteckte sich.
Die Pause stand kurz bevor. Der Maskierte wusste, dass Janis Holden im Publikum saß. Ganz vorne. In der ersten Reihe. Pryor hatte die Gratiskarte für sie besorgt.
Janis würde bestimmt in der Pause ihren Liebsten aufsuchen und ihm sagen, wie toll sie ihn fand.
Applaus brandete durch das Theater.
Es war soweit. Die Künstler verließen die Bühne. Der Maskierte hörte das rasche Trippeln von Schritten. Kichernde Mädchen liefen draußen den Gang entlang. Eine Tür wurde übermütig zugeknallt.
Und dann betrat Dick Pryor seine Garderobe.
Er trug eine Perücke mit langen Haaren. Jetzt nahm er sie ab und stülpte sie über einen Styropor-Kopf.
Schweiß glänzte auf seinem Gesicht. Die letzten fünf Minuten, bevor der Vorhang gefallen war, waren für ihn extrem anstrengend gewesen.
Der frenetische Applaus der Zuschauer hatte ihn dafür reich entschädigt. Er hatte seine schwierige Aufgabe bravourös gemeistert und durfte mit exzellenten Kritiken rechnen.
Der Maskierte zog den Revolver, den er erst seit kurzem besaß, und näherte sich dem jungen Künstler auf Zehenspitzen. Keiner seiner Schritte war zu hören.
Kalt wie Kohlenstücke glänzten seine Augen durch die Maskenlöcher.
Dick Pryor ließ sich vor dem Schminkspiegel ächzend auf den Hocker fallen.
Er fühlte sich trotz der vollbrachten Anstrengung großartig. Es war ein unbeschreiblich gutes Gefühl, beim Publikum so gut anzukommen.
Die Menschen mochten ihn. Das spürte er. Er kam bei den Zuschauern stets gut an. Egal, in welcher Rolle. Er hatte das gewisse Etwas, das ihn aus der Masse herausragen ließ.
Ausstrahlung. Charisma. Sexappeal. Entweder man hatte es oder man hatte es nicht. Wenn man es nicht hatte, schaffte man es nie bis ganz nach oben.
Pryor griff nach der Mineralwasserflasche, die vor ihm stand. Er trank während einer Aufführung nichts anderes. Immer nur Wasser. Mild. Mit ganz wenig Kohlensäure.
Während er den Schraubverschluss öffnete, hob der Maskierte langsam die Waffe.
Pryor setzte die PET-Flasche an die Lippen und trank' mit geschlossenen Augen.
Und dann...
39
»Hey!«, rief draußen ein Sicherheitsmann. »Miss!«
Janis Holden blieb stehen. »Ja?«
»Haben Sie sich verlaufen?« Der übergewichtige Mann kam langsam näher.
»Nein«, antwortete Janis.
»Haben Sie das Schild nicht gesehen?«, fragte der Sicherheitsmann. »Unbefugten ist der Zutritt zu diesem Bereich untersagt.«
Janis drehte sich um. »Ich bin Janis Holden.«
Der Mann riss die Augen auf. »Oh, Verzeihung, Miss Holden. Ich habe Sie nicht gleich erkannt.«
»Ich möchte zu Dick Pryor. Darf ich?«
»Aber selbstverständlich, Miss Holden. Nur zu.« Der Sicherheitsmann nickte, machte kehrt und entfernte sich.
Janis ging weiter.
Vor Pryors Garderobentür blieb sie stehen. Sie klopfte.
»Ja!«, kam es gedämpft durch die Tür.
»Dein Baby ist hier und möchte zu dir!«, sagte Andrew Holdens Tochter.
Sie öffnete die Tür und betrat den Raum.
Sie hielt den Mann, der vor dem Schminkspiegel saß, für Dick Pryor. Wie hätte sie auch auf die Idee kommen sollen, dass er es nicht war? Er trug die Perücke.
»Liebling, du warst fantastisch«, sagte Janis, während sie auf ihn zuging.
Er drehte sich um.
Sie blieb verdattert stehen.
Ein Maskierter saß da, wo Dick hätte sitzen müssen. Ein Maskierter mit Dicks Perücke. Eigenartig sah das aus - die schwarze Strickmaske umrahmt von hellen Haaren.
Janis starrte den Fremden entgeistert an. »Was soll das? Wer sind Sie? Wo ist Dick Pryor? Was suchen Sie in seiner Garderobe?«
»Dich«, antwortete der Unbekannte. Er stand auf.
Janis wich ängstlich zurück. Endlich begriff feie. Yvonne Bercone, die Sekretärin ihres Vaters, ihre Mutter und ihr Bruder lebten nicht mehr, und nun sollte es auch ihr ans Leben gehen.
Jetzt erst sah sie den Revolver in der Hand des Maskierten. Furcht verzerrte ihr Gesicht.
Sie riss den Mund auf und wollte laut um Hilfe schreien...
...doch die Kugel, die der Fremde abfeuerte, war schneller und saß mitten in ihrem Leben!
40
Die beiden Mädchen, die vor wenigen Augenblicken kichernd an Dick Pryors Garderobe vorbeigelaufen waren und kurz darauf ungestüm mit der Tür geknallt hatten, hörten den Schuss.
»Was war das?«, fragte die eine. Sie spielte im Stück eine Lungenkranke, die nach der Pause dramatisch in Dick Pryors Armen sterben würde.
»Da hat jemand geschossen«, antwortete ihre Kollegin.
»Geschossen?«
»In Dicks Garderobe.«
»Das gibt’s doch nicht.«
Die Mädchen hasteten aus ihrer Garderobe. Der