Manche der Fahrgäste erblickten dann für Sekunden den Bärtigen, der in sich gekauert dasaß und leicht zitterte.
Er hatte Angst.
Jeder Laut ließ ihn zusammenfahren.
Der Bärtige hatte ein paar fette Ratten aufgespießt und drehte sie über dem Feuer. Ratten waren sehr nahrhaft und vor allem gab es hier unten genug davon. Und der Bärtige wusste, wie man sie fing.
Jede Viertelstunde raste ein Triebwagen der Subway am Lager des Bärtigen vorbei. Der Luftzug, der dann entstand, ließ das Feuer hoch auflodern.
Der Bärtige hörte Schritte. Er schreckte auf.
Seine Augen suchten nervös die Umgebung ab.
"Hey, Mann! Hier hast du dich also verkrochen, Crazy Joe!", sagte eine sonore Stimme. Drei Gestalten traten aus dem Dunkel heraus. Crazy Joe fragte sich, wo sie plötzlich herkamen. Vermutlich hatten sie ihn schon länger beobachtet.
Die drei trugen Strickmützen, die bis zum Kinn hinuntergezogen hatten. Für die Augen waren kleine Löcher hineingeschnitten worden. Der Rest ihrer Sachen bestand aus abgetragener Straßenkleidung.
Der Mittlere der drei trug einen abgeschabten Wollmantel.
In den Händen hielt er eine Pump-Gun. Mit einem harten Geräusch lud er das Gewehr durch.
Crazy Joe erbleichte.
"Du hast dich ziemlich rar gemacht, Joe!", sagte der Kerl im Mantel. "Der Tunnel King ist ziemlich beunruhigt..."
"Hört mal, Leute, ich..."
Crazy Joe brach ab. Er wusste, dass jedes weitere Wort verschwendet war.
"Du wirst zum Risiko, Crazy Joe..."
"Was soll das heißen?"
"Nimm's nicht persönlich. Aber wir haben vom Tunnel King einen klaren Auftrag..."
Der Mann mit dem Mantel hob die Pumpgun.
Joe wich ein Stück zurück. Er hatte beinahe die Gleise erreicht, die etwa einen halben Meter tiefer lagen als der ehemalige Bahnsteig.
Joes Hand riss etwas aus der Tasche seiner fleckigen Jacke heraus. Es geschah blitzschnell. Etwas wirbelte durch die Luft.
Ein Messer.
Der Kerl im Mantel ließ die Pumpgun loskrachen. Einen Sekundenbruchteil später griff er sich an den Hals. Er taumelte zurück, ließ die Pumpgun sinken. Eine Hand umfasste den Messergriff, der aus seinem Hals herausragte. Blut schoss unter der Strickmütze hervor. Der Mann im Mantel schlug der Länge nach hin.
Die beiden anderen standen für einen Moment wie erstarrt da.
Damit hatten sie nicht gerechnet.
Crazy Joe machte einen Satz hinunter zu den Gleisen. Er rannte.
Er rannte in den dunklen Tunnel hinein.
Einer der beiden Maskierten griff zur Pumpgun, hob sie auf und lud sie durch.
Dann feuerte er.
Die Kugel erwischte Crazy Joe mitten zwischen den Schulterblättern.
Er sank zu Boden und lag dann mitten über den Gleisen.
"Wenn der Zug kommt, wird nicht viel von ihm übrigbleiben", stellte einer der beiden Männer fest.
8
Am nächsten Morgen saßen wir bei Mister McKee im Büro. Außer Milo und mir waren noch die Agenten Clive Caravaggio und Orry Medina anwesend. Max Carter, ein Innendienstler aus der Fahndungsabteilung kam etwas später, zusammen mit einem gewissen Clovis Ortega, den die Scientific Research Division geschickt hatte. Die SRD war der zentrale Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, und auch wir vom FBI nahmen seine Hilfe gerne in Anspruch.
Die Untersuchungen am Tatort in den Tunneln unter der Bowery hatten einige interessante Neuigkeiten erbracht.
Die Kollegen der SDR hatten reichlich Projektile eingesammelt, mit denen die unbekannten Killer ja sehr verschwenderisch gewesen waren.
Außerdem gab es dann ja auch noch die Kugeln, die Sid und Brett getötet hatten.
"Eine der benutzten Waffen ist schon einmal aktenkundig geworden", erläuterte Clovis Ortega. "Unsere ballistischen Tests sind da ganz eindeutig."
"Benutzt?", hakte Mister McKee nach. "Wann und wo?"
"Bei einer Schießerei in der South Bronx vor zwei Jahren, als dort ein Drogenkrieg zwischen den Puertoricanern aus East Harlem und den Jamaikanern tobte", erklärte Ortega. "Vor dem Kaufhaus BIG DEAL in der 166. Straße haben sich die Killer-Armeen beider Seiten eine regelrechte Schlacht geliefert... Wem die Waffe gehörte, konnte nie genauer bestimmt werden. Aber da die betreffenden Kugeln in den Körpern einiger Männer steckten, von denen wir wissen, dass zu zum Syndikat der Jamaikaner gehörten, muss es sich um jemanden gehandelt haben, der für die Puertoricaner gemordet hat."
"Da dürfte die Auswahl reichlich sein", kommentierte unser Kollege Medina etwas gallig und lockerte dabei seine Seidenkrawatte ein Stück.
"Es gab damals Dutzende von Verhaftungen", sagte Max Carter. "Ich habe all diejenigen in einem Dossier zusammengestellt, die in irgendeiner Weise mit der Schießerei in Zusammenhang gebracht werden. Viele mussten wieder auf freien Fuß gesetzt werden, einige sitzen noch auf Riker's Island."
"Soweit ich ich das in Erinnerung habe, wurden damals beide Syndikate zerschlagen", sagte Mister McKee.
Carter zuckte die Schultern.
"Wäre ein Wunder, wenn sich die Überreste nicht inzwischen neu gruppiert hätten und irgendwie wieder aktiv geworden wären..."
"Glauben Sie an eine Verbindung zwischen der Todesserie in den Tunneln und dem Drogenmilieu?", fragte ich an Carter gewandt.
Carter schüttelte den Kopf.
"Nein, das eigentlich nicht. Obwohl man es auf der anderen Seite natürlich nicht ausschließen kann, schließlich sind die Drogenbarone immer bestrebt, ihr schmutziges Geld in anderen Branchen anzulegen."
"Aber das sind doch üblicherweise möglichst legale Branchen, damit aus dem Schmutzgeld blütenweiße Dollars werden", wandte Orry ein.
"Andererseits ist das Betreiben einer Transplantationsklinik eine Branche, die sich ebenso für die Geldwäsche eignet wie zum Beispiel das Glücksspiel", wandte Milo Tucker ein.
"Wie auch immer", ergriff Max Carter wieder das Wort.
"Ich glaube eher an eine andere Möglichkeit. Und die besteht einfach darin, dass die Killer von damals sich einen neuen Arbeitgeber gesucht haben, sofern sie durch die Maschen der Justiz schlüpfen konnten." Carter legte sein Dossier auf den Tisch. Er wandte sich an unseren Chef. "Ich schlage vor, dass wir uns jeden einzelnen dieser Leute noch einmal vorknöpfen, gleichgültig, ob sie nun auf Riker's Island sitzen oder sonstwo zu finden sind. Vielleicht bekommen wir so entscheidende Hinweise auf die Drahtzieher im Hintergrund..."
"Oder der Tunnel King sagt uns, was er weiß...", meinte ich.
"Vorausgesetzt, er will mit Ihnen sprechen, Jesse", gab Mister McKee zu bedenken.