Irrlichter und Spöckenkieker. Helga Licher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helga Licher
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783967526691
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traten.

      »Es darf nicht sein, nein, es darf nicht sein …«, murmelte sie immer wieder tonlos. Hilflos starrte sie auf das Kreuz, das drohend in den Himmel ragte. Ein Schauer jagte über ihren Rücken, und die aufsteigende Panik raubte ihr den Verstand. Mit letzter Kraft nahm sie Stine an die Hand und zog sie mit sich in die kleine Friedhofskapelle.

      Von diesem Tag an weigerte sich Stine beharrlich, den Friedhof zu betreten. Die sonntäglichen Kirchgänge wurden für Großmutter und Enkelin zur Qual. Während Meta Knudtsen dem Grab ihrer Schwiegereltern nach wie vor einen Besuch abstattete, saß Stine still und in sich gekehrt auf den Stufen der alten Kirche und wartete auf die Rückkehr ihrer Großmutter. Wie gebannt war ihr Blick auf das große, eiserne Tor gerichtet, das den Friedhof vom Kirchplatz trennte.

      Die schwebende Frau wird es nicht wagen, den Friedhof zu verlassen, dachte Stine mit klopfendem Herzen.

      Großmutter hat es versprochen …

      Immer wieder schaute sie auf die große Kirchturmuhr. Viel zu lange wartete sie schon auf Metas Rückkehr.

      »Auf dem Kirchhof spukt es …«, murmelte Stine leise.

      In der Schule hatten die Kinder oft von Geistern gesprochen, die nachts auf dem Friedhof ihr Unwesen trieben.

      »Es gibt keine Gespenster«, hatte Großmutter gesagt, als Stine zu Hause davon erzählte.

      »Die Kinder wollen dir nur Angst einjagen, hör nicht auf sie.«

      Nun hatte sie doch ein Gespenst gesehen. Lautlos, in ein weißes Kleid gehüllt schwebte es am Kreuz entlang. Aber warum hatte ihre Großmutter keine Angst?

      Meta vermied es, mit Stine über die schwebende Frau zu sprechen. Wenn das Kind dieses Thema ansprach, wich sie aus. Sie wusste, dass sie dem Mädchen eines Tages Antworten auf viele Fragen geben musste, aber noch war Stine zu jung, sie würde nicht verstehen, warum sie anders war als die Kinder im Dorf.

      »Du willst doch nicht, dass man über dich lacht? Stine spinnt, wird man sagen, willst du das?«

      Mit eindringlichen Worten sprach Meta auf die Kleine ein.

      »Gespenster gibt es nicht«, sagte sie und wechselte rasch das Thema.

      »Morgen gehst du zum alten Onkel Feddersen, er hat kleine Kaninchen. Vielleicht schenkt er dir eines.«

      Um die Familie nicht ins Gerede zu bringen, forderte Meta von der Kleinen absolutes Stillschweigen, auch dem Großvater gegenüber. Niemand durfte erfahren, was dort auf dem Friedhof geschehen war.

      »Wenn du erwachsen bist, wirst du verstehen warum du Dinge siehst, die andere nicht sehen.«

      Die Bäuerin wusste, ihre Enkelin musste irgendwann erfahren, welch schweres Erbe sie zu tragen hatte.

      Stine hielt sich gehorsam an die Anweisungen ihrer Großmutter, sie konnte sich ja selber nicht erklären, was an diesem verhängnisvollen Sonntag wirklich geschehen war.

      Sie hatte eine schwebende Frau gesehen.

      Doch offenbar konnten andere Menschen diese Frau nicht sehen. Stine verstand das alles nicht. Folgsam versuchte sie das Ereignis auf dem Friedhof zu vergessen.

      Niemand sollte sagen - Stine spinnt …

      Dem aufmerksamen Beobachter fiel allerdings auf, dass Stine ihre kindliche Fröhlichkeit verloren hatte. Nur noch sehr selten hörte man ihren ausgelassenen Gesang, sie wurde ihrer Mutter immer ähnlicher. Still und in sich gekehrt saß sie oft unter der alten Buche und sah gedankenverloren über das Moor. So sehr sie sich auch darum bemühte, konnte sie die Erscheinung auf dem Friedhof nicht vergessen.

      Immer wieder sah sie das bleiche Gesicht der weißgekleideten Frau vor sich und jedes Mal begann ihr Herz heftig zu klopfen. Doch sie traute sich nicht Großmutter Meta noch einmal auf dieses Erlebnis anzusprechen.

      »Warte bis du erwachsen bist …«, hatte sie gesagt und daran hielt Stine sich.

      Langsam kehrte der Alltag auf dem Knudtsenhof wieder ein. Am Abend jedoch, wenn alle Lichter gelöscht wurden und die Dunkelheit einen Schleier des Vergessens über den alten Hof ausbreitete, sah man Meta manchmal in ein Gebet vertieft vor dem Hausaltar knien.

       8

      Die Jahre vergingen, Stine wurde älter und entwickelte sich zu einem pflichtbewussten jungen Mädchen.

      Ihre kindlichen Gesichtszüge verschwanden mehr und mehr.

      Die hohen Wangenknochen verliehen ihrem Gesicht eine gewisse Kühle, die durch die sanft geschwungenen, vollen Lippen wieder aufgehoben wurde.

      Stine war eine gute Schülerin und nahm mit Freude am Konfirmationsunterricht teil.

      »Was wünscht ihr euch für euer Leben?«, hatte Pfarrer Harms vor einigen Tagen seine Schülerinnen gefragt. Die Mädchen mussten nicht lange überlegen. Viele sahen den Sinn ihres Lebens darin einen Beruf zu erlernen, eine Familie zu gründen oder glücklich zu sein.

      Stine hatte lange nachgedacht, bevor sie schließlich leise sagte:

      »Ich wünsche mir Frieden. Es soll nie wieder einen Krieg geben …«, hatte sie geantwortet.

      Am liebsten saß sie alleine auf der morschen Bank hinter den Stallungen und las in einem der vielen Bücher, die sie sich in der Kirchenbibliothek auslieh. Sie liebte die Geschichten von Karl May und las begeistert Berichte des berühmten Afrikaforschers David Livingstone.

      Ihr Lieblingsbuch jedoch war ein kleines, unscheinbares Büchlein mit dem Titel: »Friesische Sagen und Erzählungen« von Christian Peter Hansen. Sie hatte es eines Tages zufällig in der Sakristei der St. Laurentii Kirche entdeckt, und Pfarrer Harms hatte ihr erlaubt das Buch zu lesen.

      Stine war fasziniert von den Geschichten des Kobolds Ekke Nekkepenn, der mit seiner Gemahlin in einem Kristallpalast auf dem Grunde der Nordsee wohnen sollte. Der Sage nach hatte der friesische Meeresgott oft mit den Schiffskapitänen seinen Schabernack getrieben. Für den Salzgehalt der Nordsee war seine Frau Ran verantwortlich. Während Ekke Nekkepenn am Strand hübschen Mädchen nachstellte, saß sie am Meeresgrund und mahlte Salz. Häufig mahlte sie so ungestüm, dass viele Segelschiffe im Meer versanken.

      Stine träumte davon auf einem Segelschiff um die Welt zu segeln und all die Geschichten aus ihren Büchern selber zu erleben. Doch sie wusste auch, dass dieser Wunsch immer ein Traum bleiben würde …

      Mit der Zeit verblassten die Erinnerungen an die schwebende Frau, und irgendwann hatte Stine den Gedanken daran verdrängt. Nur manchmal, wenn sie ein Kreuz sah, dachte sie flüchtig an das unheimliche Erlebnis auf dem Friedhof.

      Dann kam der Tag ihrer Konfirmation. Stine trug das erste Mal die Föhrer Tracht und stand stolz im Kreise ihrer Mitschülerinnen in der kleinen St. Laurentii Kirche von Süderende. Der schwere Stoff des dunkelblauen Rockes und die strahlend weiße Schürze unterstrichen ihre zierliche Figur und ließen sie noch schlanker erscheinen. Nervös zupfte sie an dem schwarzen Kopftuch, dass Meta kunstvoll um Stines Haar geschlungen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass das Tuch nicht verrutschen würde.

      Ehrfürchtig lauschte sie den Worten des Pfarrers. Er sprach von Pflichtbewusstsein und von der Achtung den Eltern gegenüber. Andächtig faltete das Mädchen ihre Hände, den Blick auf den Altar gerichtet.

      Während die Gemeinde das Lied »Großer Gott, wir loben dich«, anstimmte, segnete Pfarrer Harms die Konfirmanden.

      Niemand bemerkte, wie Stine plötzlich erstarrte und mit versteinertem Gesichtsausdruck, am Pastor vorbei, in die Ferne starrte. Aus ihrem Gesicht war jede Farbe gewichen, gespenstisch traten die dunklen Augen aus dem bleichen Antlitz hervor. Das Mädchen verstand längst nicht mehr den Sinn der gesprochenen Worte.

      Wie in Trance wanderte ihr Blick zu dem bronzenen Kreuz, das seitlich vor dem Altar stand. Ihr Atem ging stoßweise und ihre Schultern verkrampften sich. In ihrem Bewusstsein tauchten Bilder auf, die an ein bestimmtes Ereignis