Irrlichter und Spöckenkieker. Helga Licher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helga Licher
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783967526691
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seiner Tochter. Die Gespräche am abendlichen Stammtisch im Dorfkrug drehten sich in den folgenden Wochen nur um ein Thema.

      »Er hat sie in den Tod getrieben!«, behauptete der Apotheker und machte ein bedeutungsvolles Gesicht.

      »Na ja, Rieke war ein bisschen wunderlich. Das hat sie von ihrer Mutter. Wir können nur für die kleine Stine beten. Ole hat es schon nicht leicht mit seinen Frauen. Ich kann ihn gut verstehen.«

      Der alte Hinrichsen schüttelte bedauernd den Kopf.

      »Die Leiche war in einem schrecklichen Zustand. Fast hätten wir sie nicht erkannt. So was möchte ich nicht noch einmal sehen.«

      Der Polizist Walter Eggers verzog angewidert sein Gesicht.

      »Lieg du mal so lange im Wasser …«, murmelte Hinrichsen.

      Tagelang war die Polizei auf dem Knudtsenhof ein- und ausgegangen um nach Antworten auf die vielen Fragen zu suchen, die sich auch die Menschen in Oldsum stellten. Die Leiche war so stark verwest, dass die Todesursache und der Zeitpunkt ihres Sterbens von der Polizei nicht mehr festgestellt werden konnten. Es wurde noch eine Weile in verschiedene Richtungen ermittelt, doch neue Ergebnisse gab es nicht.

      Drei Tage nach Weihnachten wurde die Akte »Rieke Klassen« endgültig geschlossen.

       4

      Stine entwickelte sich zu einem bezaubernden Kleinkind, das ihren Großeltern viel Freude bereitete. Während Meta versuchte den frühen Tod ihrer Tochter zu verarbeiten, ging der Bauer relativ schnell wieder zum Tagesgeschehen über.

      Die Besuche im Wirtshaus wurden weniger, dafür kümmerte er sich liebevoll um seine Enkelin. Über Rieke wurde auf dem Knudtsenhof nicht mehr gesprochen, der Bauer ließ es nicht zu. Wenn Meta den Namen ihrer Tochter auch nur erwähnte, nahm Ole die kleine Stine auf den Arm und verließ demonstrativ das Zimmer.

      »Ich habe keine Tochter mehr«, sagte er stets, wenn jemand nach Rieke Klassen fragte.

      Schon früh übernahm Stine kleine Aufgaben in der Küche und half ihrem Großvater bei der Fütterung der Tiere auf dem Hof. Stine war sehr wissbegierig und verbrachte viele Stunden damit, in ihren bunten Bilderbüchern zu blättern. Abends, wenn auf dem Hof Ruhe einkehrte, erzählte Meta ihr Geschichten, die sie vor vielen Jahren schon ihrer Tochter Rieke erzählte.

      Manchmal fragte Stine nach ihrer Mutter, gab sich aber stets mit der Erklärung zufrieden, ihre Mutter sei bei einem Unfall ums Leben gekommen. Laas Klassen besuchte seine Tochter zuerst regelmäßig zum Geburtstag, heiratete dann aber eine Hoferbin vom Festland und begnügte sich damit, ab und zu eine Postkarte zu schreiben.

       5

      »Großmutter, mein Ball ist weg.«

      Stine blickte kurz zu ihrer Großmutter hinüber, hüpfte die Steinstufen der Terrasse hinunter und lief in den Garten.

      Nachdenklich ließ Meta Knudtsen ihr Strickzeug sinken und sah ihrer Enkelin nach.

      Der frühe Tod der Mutter hatte die Sechsjährige vorzeitig zu einem verantwortungsbewussten Mädchen werden lassen, welches seine Großmutter über alles liebte. Oft, wenn Meta das Kind beim Spielen beobachtete, musste sie unweigerlich an ihre einzige Tochter denken. Stine war ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte die gleichen dunklen Augen, die neugierig in die Welt blickten, und trug, genau wie ihre Mutter, das dicke, braune Haar zu einem Zopf geflochten.

      Schmerzlich erinnerte Meta sich an Riekes Todestag, der sich in einigen Wochen zum dritten Male jährte.

      Die alte Bäuerin sah diesem Tag mit Grauen entgegen. Wie in den vorausgegangenen Jahren, würde sie mit ihrer Enkelin zum Grab ihrer Tochter gehen und versuchen Stines Fragen nach der Mutter wahrheitsgemäß zu beantworten. Und wie immer würde sie der Kleinen die Antwort auf die Frage nach dem »Warum« schuldig bleiben. Oft fragte sie sich, ob sie als Mutter versagt hatte? Hätte sie Rieke retten können?

      Meta erhob sich seufzend von der Bank und lehnte ihren Rücken müde gegen die von der Sonne erwärmte Hauswand. »Es wird Regen geben«, murmelte sie leise und rieb mit der Hand die schmerzende Schulter. Ihre vom Rheuma geplagten Gelenke registrierten inzwischen jeden Wetterumschwung.

      Metas suchte das Kind mit den Augen, aber Stine war längst zwischen den Apfelbäumen verschwunden. Es wird Zeit, nach der Kleinen zu schauen, dachte sie und schlurfte zur Gartentreppe. Während sie haltsuchend nach dem morschen Geländer griff, begannen ihre Hände zu zittern. Kalte Schauer liefen ihr über den Rücken, und ein Gefühl der Panik überkam sie. Um sie herum wurde es still, die Vögel sangen nicht mehr, und selbst das monotone Rascheln der Blätter im leichten Sommerwind war nicht mehr zu hören.

      Urplötzlich schien die Welt den Atem anzuhalten …

      Wo war das Kind? Irgendetwas war nicht in Ordnung, das spürte Meta ganz genau. Vor ihrem geistigen Auge nahm sie etwas wahr, was sie nicht beschreiben konnte.

      Nur sehr zögerlich wurde das Bild klarer und nahm Gestalt an. Sie sah einen schemenhaften Körper, der sie stark an ihre verstorbene Tochter erinnerte.

      »Stine, wo bist du?«, wimmerte sie und umklammerte das Treppengeländer. Vergeblich versuchte sie ihre Unruhe in den Griff zu bekommen, aber es gelang ihr nicht.

      »Dem Kind darf nichts geschehen«, murmelte sie monoton und schloss die Augen.

      Die Minuten verstrichen und kamen Meta wie eine Ewigkeit vor.

      Wie aus weiter Ferne hörte sie irgendwann die Stimme des Mädchens, das weinend zwischen den Bäumen der Obstwiese auftauchte und verzweifelt nach der Großmutter rief.

      »Großmutter, ich habe die weiße Frau schon wieder gesehen. Sie soll weggehen.«

      Meta erwachte aus ihrer Starre und atmete auf, als sie sah, dass Stine nichts geschehen war. Erschöpft ließ sie sich auf die unterste Treppenstufe sinken und zog das vor Angst zitternde Kind auf den Arm. Meta Knudtsen machte sich große Sorgen um Stine. Zu oft war sie nachts weinend zu ihr ins Bett gekrochen und hatte von einer weißen Frau berichtet.

      Meta wusste genau, was das bedeutete. Doch was sollte sie dem Kind sagen? Sie könnte sagen: »Du träumst, denk dir nichts dabei …« Oder: »Deine Phantasie geht mit dir durch, denk an etwas anderes

      Die Bäuerin schüttelte den Kopf. Sie wusste genau, dass Stine nicht träumte, und mit Fantasie hatte das, was das Kind sah, schon gar nichts zu tun. Sie hatte immer geahnt, dass sich alles wiederholen würde. Zuerst sie selbst, dann Rieke und nun Stine.

      Doch sie musste ihre Enkeltochter beschützen, mit aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand. Sie konnte nicht zulassen, dass …

      »Großmutter, du sagst der Frau, dass sie gehen soll, nicht wahr? Sie macht mir Angst, sie soll gehen und nie mehr wiederkommen! Nie mehr.«

      Stine krallte sich an der Schürze ihrer Großmutter fest und sah beschwörend zu ihr auf. Die Bäuerin schüttelte den Kopf, tröstend strich sie dem Kind übers Haar.

      »Hab keine Angst, sie wird dir nichts tun, das ist gewiss. Du hast geträumt, es war nur ein Traum.«

      Meta hielt das Mädchen fest umschlungen und summte beruhigend ein Kinderlied. Stine schluchzte noch einmal auf, kuschelte sich in die Arme ihrer Großmutter und sang leise mit.

      Wie eine kleine Katze hatte das Kind sich auf dem Schoß der Großmutter zusammengerollt. Leise, gleichmäßige Atemzüge verrieten ihr, dass die Kleine eingeschlafen war.

      Meta schaute lächelnd auf ihre Enkeltochter.

      »Bald bist du eine echte Knudtsen«, murmelte sie leise und erhob sich. Behutsam nahm sie das Kind auf den Arm, ging die Treppe hinauf und brachte Stine ins Bett.

      »Schlaf schön, mein Liebling«, flüsterte sie und strich ihr eine Locke aus der Stirn.

      Meta