III. Grenzen kirchlicher Arbeitskampffreiheit
Drei Fragen sollen aus der Erfahrung von mehr als sechs Jahren seit Verkündung des referierten Urteils behandelt werden:
(1) Welches ist die Rechtsfolge, wenn eine kirchliche Einrichtung in den bei ihr abgeschlossenen Arbeitsverträgen von den auf dem Arbeitsrechtsregelungsverfahren des Dritten Weges zustande gekommenen Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR) abweicht?
(2) Genügen die Verfahrensregelungen zur Einleitung und Durchführung des Vermittlungsverfahrens auf dem Weg zu Regelungen des Dritten Weges auf katholischer Seite den Vorgaben der Rechtsprechung?
(3) Und schließlich: Sind alle systemimmanenten Überlegungen in diesem Zusammenhang überholt? Ist die auf die kirchlichen Einrichtungen als Ganze ausgerichtete Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zum grundsätzlich eröffneten Recht, gewerkschaftliche Arbeitskämpfe unter Hinweis auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und die Glaubensfreiheit mit staatlicher Hilfe abzuwehren, durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache Egenberger12 und im Chefarzt-Fall „IR/JQ“13 grundsätzlich in Frage gestellt?
1. Abweichungen von AVR in einzelnen Einrichtungen
Am 24. Mai 2018 hat der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts eigentlich nur eine Selbstverständlichkeit aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichts14 wiederholt: Kirchengesetzliche Regelungen, welche die Schaffung einer vertraglichen Grundlage für die vollumfängliche Geltung des kirchlichen Arbeitsrechts anordnen, schließen es nach dem staatlichen Arbeitsrecht nicht aus, dass eine kirchliche Einrichtung nur eingeschränkt auf kirchliche Arbeitsrechtsregelungen, etwa die Arbeitsvertragsrichtlinien (AVR), Bezug nimmt.15 Das nicht in Bezug Genommene gilt in einem solchen Fall im betreffenden Arbeitsverhältnis selbst dann nicht, wenn kirchenarbeitsrechtliche Regelungen16 die normative Geltung kirchlicher AVR für diese Beschäftigten anordnen. Eine dahin gehende Rechtsetzungsmacht mit Verbindlichkeit für den staatlichen Rechtskreis ist nicht Teil der Kirchenautonomie. Arbeitsrechtsregelungen gelten dort nur, soweit sie arbeitsvertraglich in Bezug genommen sind. Dem entsprechend führt auch das Verlassen des Geltungsbereichs einer kollektiven Arbeitsrechtsregelung im Wege eines Betriebsübergangs nicht wie im Tarifvertragsrecht nach § 4 Abs. 5 TVG zur – statischen – Nachwirkung des bei Betriebsübergang kollektiv Geregelten. Ob Arbeitsrechtsregelungen wie etwa AVR im Stand beim Übergang auf den nicht kirchlichen Betriebserwerber statisch oder über diesen Zeitpunkt hinaus in ihrer jeweiligen Fassung, also dynamisch, weitergelten, richtet sich nach dem, was die Parteien des einzelnen Arbeitsverhältnisses vertraglich hierzu vereinbart hatten.17
Dass aufgrund dieses rechtsdogmatischen Ansatzes den kirchlichen Einrichtungen die Vertragsfreiheit bleibt, von kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen abzuweichen, bedeutet keinen Verstoß gegen das Gebot des Bundesarbeitsgerichts, die Regelungen des Dritten Weges müssten „abweichungsfest“ sein.18 Die Kirche kann hier nur kirchenrechtlich festlegen, wer nach Maßgabe der sich aus den Vorgaben der Dienstgemeinschaft ergebenden Regeln Teil des kirchlichen Dienstes ist und dass der, der gegen das kirchenarbeitsrechtliche Regelwerk verstößt, dies nicht ist. Dies ist in den Art. 2 und 7 der Grundordnung und den auf dieser Grundlage entstandenen kirchlichen Arbeitsrechtsregelungen geschehen.
Die Ausübung der durch das Urteil vom 24. Mai 2018 bestätigten Vertragsgestaltungsfreiheit kirchlicher Arbeitsrechtsträger im Geltungsbereich von AVR hat für diese auch negative Folgen, die für das Urteil nicht entscheidungserheblich waren, aber außerhalb der konkreten gerichtlichen Konfliktbewältigung betont werden sollen.
Zunächst: Nur partiell in Bezug genommene AVR verlieren ihre Angemessenheitsvermutung. Sie sind nur als Ganze nach den Regeln des Dritten Weges in einer ausgewogenen Verhandlungssituation entstanden. Teile des Regelwerks sind deshalb nicht von der Inhalts- und Angemessenheitskontrolle nach §§ 307 ff. BGB ausgenommen, wie dies die Rechtsprechung mit Hilfe des „Scharniers“ der „im Arbeitsrecht geltenden Besonderheiten“ (§ 310 Abs. 4 S. 2 BGB)19 für insgesamt auf dem Dritten Weg zustande gekommene Regelungen annimmt.20 Wenn AVR nur teilweise, und sei es auch überwiegend, in Bezug genommen werden, im Übrigen aber Abweichendes vereinbart wird, gilt nichts anderes als für die Kontrolle arbeitsvertraglich in Bezug genommener Tarifverträge. Die Inbezugnahme nur einzelner tariflicher Regelungen lässt diese nicht an der Kontrollfreiheit nach § 310 Abs. 4 BGB teilnehmen. Ob die danach wiederhergestellte Kontrolldichte auch dann maßgebend ist, wenn ganze Regelungskomplexe in Bezug genommen worden sind – oder nach einer abweichenden Regelung im Übrigen als nicht zu kontrollierender Vertragsinhalt verbleiben –, ist zwar umstritten, aber im Ergebnis zu bejahen.21
Die zweite Konsequenz einer von AVR abweichenden Regelung ergibt sich unmittelbar aus dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20. November 2012: Wer dem privilegierten Arbeitsrechtsregelungsverfahren des auf die Dienstgemeinschaft zugeschnittenen Dritten Weges und dessen Ergebnissen, die nach dem Willen der Kirche für jedes einzelne bei ihr angesiedelte Arbeitsverhältnis verbindlich sind, bewusst, wenn auch vielleicht nur punktuell ausweicht, verletzt die in § 2 AVR allgemein festgelegte und vom Bundesarbeitsgericht für diese Privilegierung verlangte Verbindlichkeit des Dritten Weges. Er verliert den aus dem kirchlichen Selbstverwaltungsrecht fließenden Anspruch auf staatlichen Schutz vor Arbeitskampfmaßnahmen zur Durchsetzung von Tarifverträgen.22 Und: Auch ein kirchlicher Träger, der im kirchlichen Regelungsbereich regelt, ohne hierzu durch eine kirchliche Regelungsordnung legitimiert zu sein, kann damit auch eine gesetzliche Öffnungsklausel nicht verwerten, die Regelungen der Kirche vorbehalten ist, wie z. B. § 7 Abs. 4 ArbZG.23 Ob dies für jede lückenhafte Übernahme der AVR gilt oder nur für solche, die in dem betreffenden geöffneten Regelungsbereich vom kirchlichen Regelwerk abweichen, ist offen, aus meiner Sicht aber im erstgenannten Sinne zu beantworten.
2. Die kirchlichen Vermittlungsverfahren
Für die Beantwortung der Frage, ob die auf katholischer Seite getroffenen Verfahrensregelungen zur Einleitung und Durchführung des Vermittlungsverfahrens den Vorgaben der Rechtsprechung vom 20. November 2012 genügen, werden beispielhaft die bundesweit geltenden Ordnungen herangezogen.
a) Zentral-KODA Ordnung
Zunächst zu den Regelungen der von der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands am 18. November 2013 beschlossenen und am 1. Januar 2014 in Kraft getretenen Zentral-KODA Ordnung:
Hat ein Antrag der Dienstgeber- oder Dienstnehmerseite, mit dem eine arbeitsrechtliche Neuregelung für die Beschäftigten der verfassten Kirche angestrebt wird, nicht die erforderliche Mehrheit von drei Vierteln der Mitglieder der paritätisch besetzten Zentralen Kommission gefunden, kann ein Vermittlungsausschuss angerufen werden. Dies setzt voraus, dass dem Regelungsantrag mindestens die Hälfte der Mitglieder der Zentralen Kommission zugestimmt und sich auch die Hälfte der Mitglieder für die Anrufung Vermittlungsausschusses ausgesprochen hat (§ 17 Zentral-KODA Ordnung). Die strukturell unterlegene Dienstnehmerseite kann also, wenn sie sich einig ist, die Durchführung des Vermittlungsverfahrens erzwingen Dass hierfür nicht auch die Mehrheit oder zumindest eine qualifizierte Mehrheit der Mitglieder der Dienstnehmerseite ausreichen, kann man vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, auch im Vergleich zu den Regelungen, die für gewerkschaftliche Tarifkommissionen gelten, problematisieren. Durchgreifende Bedenken dürften hier aber nicht bestehen.
Schwieriger wird es bei der Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses und der Wahl der hier vorgesehenen zwei Vorsitzenden. Es ist schon merkwürdig, dass dem Vermittlungsausschuss je eine/ein Vorsitzende(r) „jeder Seite“ vorsitzt.24 Dass so die Voraussetzung eines oder einer neutralen und unabhängigen Vorsitzenden erfüllt wird, ist zweifelhaft. Man kann dies aber isoliert vielleicht noch als Petitesse ansehen. Entscheidend muss sein, ob die Regelungen im Übrigen Unabhängigkeit und Neutralität gewährleisten. Die Installation von zwei Vorsitzenden, die sich auch in einigen tarifvertraglichen Schlichtungsregelungen findet,25 muss dem Vorsitz durch einen unabhängigen