Ein echtes Dilemma also: was konnte man tun? Der neue Papst setzt, wie im Zangengriff, an vier Seiten zugleich an. Und zwar zuerst bei sich. Schon nach wenigen Wochen verdient der päpstliche Hof diesen Namen nicht mehr. Die Ausgaben für Repräsentation aller Art tendieren gegen Null. Innozenz selbst sucht sich im Quirinalspalast – den überhaupt zu beziehen ihm schwere Gewissensnöte verursacht – die schäbigsten Zimmer, ohne Fenster. Die prachtvollen Gartenanlagen auch nur zu betreten, hindert ihn eine heilige Scheu. Zehn Jahre lang trägt er dieselbe Soutane, bis sie in Fetzen fällt. Und die päpstliche Tafel wird bei Feinschmeckern berüchtigt. Das alles ist natürlich vorrangig symbolisch, gewiss auch eine Frage des Images, der angestrebten Wirkung nach außen; der finanzielle Nutzeffekt fällt demgegenüber kaum ins Gewicht.
Dieser hingegen ist bei der Umstrukturierung der Staatsschuld gewaltig. Denn der neue Papst betet nicht nur reichlich, er arbeitet unaufhörlich, mindestens fünfzehn Stunden am Tag. Und bei aller Frömmigkeit studiert er pausenlos Rechnungen und Bilanzen. Hier vollzieht sich eine erste Revolution. Denn eine Brigade gut ausgebildeter Finanzprüfer (wo waren diese Leute eigentlich vorher?) hat, wiederum binnen weniger Monate, zumindest das Gros der verstreuten Schulden ausfindig gemacht, getreu dem Motto, dass man das Schreckliche kennen muss, um es zu bannen. Die dabei entdeckten Hunderte von Anleihen werden jetzt in einen einzigen riesenhaften monte eingebracht. Das klingt nicht eben umstürzend und ist doch eine im Europa der Zeit nahezu einzig dastehende Operation. Ihr Resultat ist eine übersichtliche und zugleich konsolidierte Staatsschuld. Doch das ist nur der erste Schritt. Auf den der zweite sogleich folgt. Alles Protestgeschrei der europäischen Finanzwelt hilft nichts: für sämtliche monti wird die Verzinsung jetzt einheitlich auf drei Prozent zurückgeschraubt. Das war eine kühne und weitblickende Maßnahme. Die Finanzberater des Papstes nämlich schätzen richtig ab, dass die römische Kreditwürdigkeit dennoch erhalten bleiben werde. Waren doch in den letzten zwei Jahrzehnten die Erträge aus Landbesitz und -verpachtung am Beginn einer Abschwungphase der europäischen Ökonomie, die schließlich hundert Jahre dauern sollte, kontinuierlich gesunken, und zwar um bis zu vierzig Prozent. Vor diesem düsteren Hintergrund war eine sichere Rendite von drei Prozent aus den römischen Staatstiteln nicht zu verachten.
Haarscharf am Markt, unter konsequenter Ausnutzung der von diesem gebotenen Chancen, bewegt sich zum anderen die Subventionspolitik des Papstes. Hier kommt ihm Glück zur Hilfe, dem man allerdings auch kräftig nachhilft. Denn nach den schweren Versorgungskrisen der Jahrhundertmitte fallen jetzt die Ernten wieder deutlich besser aus, ganz abgesehen davon, dass nach den Epidemien dieser Krisenzeit weniger Mägen zu füllen sind. Zudem tut die päpstliche Wirtschaftspolitik alles, um ein Überangebot an Getreide am Tiber herbeizuführen – mit überwältigendem Erfolg. Auf diese Weise sinken die Weizenpreise so tief, wie sie seit einem Menschenalter nicht mehr gelegen haben. Auch hier hagelt es natürlich Proteste. Doch der Papst bleibt fest. Ein Shareholder-Value-Pontifex war Innozenz XI. wahrlich nicht. Doch nicht nur die römischen Aristokraten mussten verzichten lernen.
Derart billiges Getreide hätte es erlaubt, Brot zu einem Traumgewicht pro Einheitspreis von einem Hundertstel scudo zu verkaufen. Doch daran dachte der Papst nicht im Traum. Jetzt, so seine Argumentation, war durch eine besondere Gnade Gottes die Gelegenheit geboten, auch diesen Etatposten zu sanieren. Und so verkauft die staatliche Getreidebehörde billig erworbenen Weizen unverändert teuer an die römischen Bäcker, die ein Jahrzehnt hindurch einer rigorosen Zwangsabnahme unterliegen. Und auch hier intensive Marktbeobachtung: die dadurch verursachte Verteuerung wird sehr genau im Auge behalten: ein Brotpreis, der den uralten Forderungen des Volks nach erschwinglicher Basisnahrung entspricht, bleibt dennoch gewährleistet. Das mögliche Schlaraffenland allerdings wird ihnen verschlossen. Würden Politiker unserer Tage eine solche Operation wagen, so würden sie diese wohl sozial ausgewogen nennen – und flugs abgewählt werden.
Rein zweckrational betrachtet aber macht dieses Vorgehen Sinn: in Zeiten des Überflusses den Verbrauchern zumutbare Kosten zu verursachen, um für die nächsten Krisen Reserven anzusammeln. Und das Vorhaben gelingt, über alle Erwartungen hinaus. Die europäischen Finanzexperten reiben sich ungläubig die Augen. 1689 sind am Ende des Pontifikats nämlich stolze fünf Millionen Staatsschulden tatsächlich getilgt. Und es gibt wieder ein ansehnliches Plus im laufenden Budget. Rom hat finanzielle Lebenskraft für ein weiteres langes Jahrhundert gewonnen. Dazu trägt entscheidend bei, dass dieser Papst keine Nepoten hat – als erster und einziger aller länger regierenden Päpste seit mehr als drei Jahrhunderten. Das ist die zweite, die moralische Revolution. Sie erzeugt gewiss auch finanzielles, vor allem aber symbolisches Kapital. Und doch ist sie wie alle Revolutionen riskant. In den endlosen Debatten der vorangehenden Jahrzehnte hatten die Befürworter des Nepotismus eines ihrer stärksten Argumente – über den Mensch gewordenen Christus hinaus – darin gefunden, dass ein Papst, der die planmäßige Verwandtenförderung beseitigt, auf diese Weise seine Vorgänger diskreditiert. Das aber konnte man als einen Akt des Hochmuts auslegen: besser sein zu wollen als so viele vom Heiligen Geist erkorene Amtsinhaber. Innozenz XI. nahm diesen Einwand ernst, so ernst, dass die geplante Bulle, welche den Nepotismus für alle Zeit unterdrücken sollte, vorerst nicht zustande kam und erst 1692 unter seinem zweiten Nachfolger Innozenz XII. mit manchen Kompromissen verkündet wurde. Doch gegenüber der eigenen Familie machte der Odescalchi-Papst keine halben Sachen: kein Geld, kein Amt, kein Rang, kein Einfluss für seine Verwandten. Finanziell konnten sie das ohne weiteres verschmerzen. Und auch wenn die Römer den Neffen des Papstes, Don Livio, sprichwörtlich als stiefonkelhaft vernachlässigt bedauerten – langfristig haben die Odescalchi von dieser rigorosen Haltung mehr profitiert als die meisten Nepoten von den über sie ausgeschütteten Füllhörnern. Zum einen konnten sie sich darauf berufen, einen geradezu heiligen Papst hervorgebracht zu haben; und zum anderen durften sie mit stolzgeschwellter Brust von sich sagen: was wir geworden sind, sind wir trotzdem geworden. Und das war nicht wenig. Aber auch wenn er jede unmittelbare Unterstützung der Seinen ablehnte, in Sachen Heiratspolitik sprach der Papst kein Veto aus. So verschwägerten sich die Odescalchi wie gehabt mit der Crème de la Crème der römischen und italienischen Aristokratie, für die ein solcher Pontifex in der Verwandtschaft schlicht eine Statusaufwertung bedeutete.
Bankiers, kleine Leute, Nepoten – sie alle mussten sparen. Noch härter aber traf es Architekten, Maler und Bildhauer. Anfängliche große Erwartungen – dass dieser Papst etwa die Kolonnaden des Petersplatzes grandios erweitern würde – zerschlugen sich in Windeseile. Seinem Selbstverständnis als Erhalter und Befestiger entsprechend baute dieser Papst keine neuen architektonischen Weltwunder wie seine Vorgänger, sondern bewahrte allenfalls ältere Substanz, wenn sie es wert war, vor allem dann, wenn sie symbolischen Aussagewert besaß. Der Papst schützt die Kirche vor dem Einsturz – diese neue Selbstdarstellung findet ihren konsequenten Ausdruck im Medium der Restaurierung und vielleicht noch radikaler in der Umfunktionierung. Was für Pracht und Prunk errichtet wurde, hat jetzt den nüchtern-heiligen Geboten der Caritas zu dienen. So wird der Lateranpalast, für den es seit seiner Errichtung unter Sixtus V. (1585–1590) nie eine sinnvolle Verwendung außer der gab, Erhabenheit an geschichtsträchtiger Stätte anzuzeigen, kurzerhand zum Hospital umgebaut. Dieser Wandel sollte sich als fundamental erweisen – Rom entdeckt die Ästhetik des Minimalen, die Propaganda der Schlichtheit. Dass Verzicht auf Prunk aussagekräftiger sein kann als aller Glanz der Form: diese Entdeckung prägt das Selbstverständnis des Papsttums bis heute.
Kaum weniger schwer als Bankiers und Luxushändler trifft die Sanierung des maroden Systems die Gewerbe, die der Unterhaltung dienen. Dieser Dienstleistungssektor war in Rom traditionell gut besetzt. Musiker, Schauspieler, Regisseure und selbst Kurtisanen hatten die kurze, rigorose Reformzeit unter Pius V. (1566–1572) ohne allzu schwere Kundschaftsverluste überstanden und speziell unter dem mondänen Pontifikat Urbans VIII. (1623–1644) eine Blütezeit ohnegleichen erlebt. Und hier, im verzweifelten Versuch, das Lebensgefühl einer Epoche nach strengen alten Reinheitsgeboten zu reformieren, stößt der exemplarisch erfolgreiche Pontifikat des konservativen Reformers denn auch an Grenzen. Gewiss, man konnte den Römern ihren heiß geliebten Karneval verbieten, wenngleich nicht ohne das Risiko, brachialen Unmut zu erzeugen. Und natürlich reichte der Arm des Papstes auch weit genug, um die Aufführung von Singspielen aller Art zu untersagen. Selbst die verblüfften Jesuiten mussten damit rechnen, dass ihre moralisch erbaulichen Schuldramen auf einmal