Kardinäle, Künstler, Kurtisanen. Arne Karsten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arne Karsten
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783534273911
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oder Nichtsein: Rückwärtserneuerung im Sinne einer rigorosen moralischen Ökonomie – oder Augen zu und vorwärts in den Bankrott. Im Jargon der Fachkommissionen ausgedrückt: wollen wir, brauchen wir einen Papst, dem nichts Menschliches fremd ist, oder einen Pontifex, der ganz dem Jenseits zugewandt ist? Theologisch konnte man beide Varianten begründen. Schließlich war Christus, der Gottessohn, selbst Mensch geworden, hatte sich also aus der einsamen Höhe des Göttlichen herabgelassen zu seinen Geschöpfen, nicht zuletzt, um auch deren Empfindungen zu teilen. Also musste auch Er gewusst haben, dass Blut dicker ist als Wasser; und waren Seine Apostel nicht gleichfalls nach Verwandtschaft handverlesen? Dieser religiösen Rechtfertigung des Nepotismus radikal entgegen waren die ‘Eiferer’ der Ansicht, dass das Amt des Papstes im Wesentlichen nicht von dieser Welt sein durfte, sondern auf Zeitenende und Ewigkeit gerichtet zu sein hatte. Weltliche Herrschaft war eine Last, eine Treuhänderschaft, die man leidend und duldend auf sich nehmen musste: zum Nutzen der anderen – und mit sauberen Händen. Mani pulite 1676.

      Und damit enden die Parallelen zur Gegenwart. Denn am 21. September 1676 erheben die Kardinäle den radikalsten aller Reformer zum Papst: Benedetto Odescalchi, fünfundsechzig Jahre alt, seit einunddreißig Jahren Kardinal und dadurch mit den Missständen des alten Systems bestens vertraut. Hinterher konnte niemand behaupten, er habe nicht gewusst, was er tat. Der neue Papst hatte wie nicht wenige Kardinäle der letzten zwei Jahrhunderte einen Lebensstil des symbolischen Widerstands geführt und damit das Gegenbild einer alternativen Kirche gezeichnet. In Zeiten des voll entfalteten, um nicht zu sagen: entfesselten Nepotismus hatte er innerweltliche Askese praktiziert. Ein weißgetünchtes Schlafgemach fast ohne Möbel, nur ein Kruzifix an der Wand, frugalste Mahlzeiten, dauerndes Memento mori – bedenke, dass du sterben musst. Das war sehr barock, passte zum Zeitgeist und hieß noch nicht viel. Schließlich hielt sich auch Alexander VII., welcher der süßen Stimme des Blutes am Ende nachgab, einen aufgeschlagenen Sarg als Wohnzierde.

      Gianlorenzo Bernini, Karikatur Innozenz’ XI. Odescalchi

      Ein fader Pedant, öder Kleingeist und Verächter des Schönen – so zeigt Berninis grausame Karikatur den durchgreifendsten Reformpapst der Neuzeit. Diesen Hass zog sich Innozenz XI. dadurch zu, dass sein Regierungsprogramm „Spitäler statt Spektakel“ lautete, womit die römische Kunstindustrie in eine Auftragskrise ohnegleichen gestürzt wurde. Im Übrigen ermangelte der rigorose Luxusverbieter und Sitteneinschärfer, der zugleich die Zwangskonversionen der Hugenotten im Frankreich Ludwigs XIV. ab 1685 indirekt missbilligte, nicht des Humors und der Fähigkeit zur Selbstkritik – vielleicht hätte er also bei aller Bitternis der Charakterzeichnung über sein genial verzerrtes Konterfei sogar geschmunzelt.

      Innozenz XI. aber war aus anderem, aus härterem Holz geschnitzt. Und bei aller Weltabgewandtheit war er ein Finanzpolitiker großen Stils. Den global players der großen Konzerne sollte schnell Hören und Sehen vergehen. Nicht umsonst stammte dieser Papst aus einer Familie, die über Generationen hinweg im Großhandel reich geworden war; diese ererbten Managerqualitäten werden jetzt gegen die Großfinanz gewendet. ATTAC hätte seine Freude daran.

      Um einen Sumpf auszutrocknen, muss man seine Ausdehnung kennen. Und so beginnt jetzt ein seltsames Spiel: wer findet bislang unbekannte Schulden? Hier taucht nochmals eine gewisse Übereinstimmung zum Jahr 2004 auf. Bei kaum einer anderen Tätigkeit sind Finanzpolitiker so erfinderisch wie bei der Einrichtung von Schattenbudgets, Zusatzetats und versteckten Sonderkassen. Für die römischen Finanzkontrolleure bedeutete das konkret: Berge finden. Monti, also Berge nämlich hießen die öffentlichen Schuldaufnahmen, mittels deren Rom in fünf viertel Jahrhunderten seine Nepoten, seine Bauten und seine Kriege finanziert hatte. Ein solcher ‘Berg’ bestand aus einer Pauschalanleihe, meistens in der Größenordnung von einhunderttausend bis einer Million scudi (zum Vergleich: ein Handwerker verdient um die Mitte des 17. Jh. jährlich etwa sechzig bis siebzig scudi), welche in der Regel von einem Bankenkonsortium en bloc übernommen, also vorgestreckt wird. In Zeiten extremer Geldnot – also im Normalfall – zahlt der Kreditgeber jedoch nicht den Nennwert, sondern einen durch ein so genanntes Disagio, einen Abschlag, niedrigeren Wert; Rabatte von bis zu zehn Prozent sind durchaus üblich. Mit anderen Worten: das Papsttum bekommt dann beispielsweise statt einer Million nur 900000 scudi ausbezahlt, hat aber für den vollen Betrag die Zinsen zu zahlen.

      Auf der Seite der Banken aber tun sich verlockende Gewinnspannen auf. Denn die meist billig erstandenen Großanleihen ließen sich in vielfältig gestückelter Form lukrativ absetzen. Aufgeteilt in „Bergorte“ von hundert scudi, waren diese römischen Staatsschatzbriefe auch und gerade für den Kleinsparer attraktiv. Und wenn das Familienvermögen nicht reichte, dann tat man sich mit Verwandten, Freunden oder Nachbarn zusammen – und lebte als glücklicher Rentier von deren Erträgen bis ans Lebensende. Noch Giacomo Casanova versorgt seine abgelegten Mätressen zwecks Verheiratung mit solchen Kleinrenten. Die ideale Mitgift waren sie nicht zuletzt aufgrund der päpstlichen Zahlungsmoral. Diese nämlich ist eisern. Im Gegensatz zu König Philipp II. von Spanien, der zweimal den Staatsbankrott ausrufen und danach den Schuldendienst, die Zinszahlungen also, einstellen ließ, waren die Päpste durchgehend darauf angewiesen, ihren Ruf der Kreditwürdigkeit zu wahren – die Nepoten jedes neuen Pontifikats warteten schließlich ungeduldig auf ihre fürstliche Ausstattung. Mochten Könige auf dem Schafott enden und die Türken vor Wien stehen: diese Rente war sicher. Schon damals machten solche Sprüche die kleinen Leute glücklich. Mit dem Unterschied, dass sie stimmten. Zumindest bis Innozenz XI. kam.

      Monti wurden seit dem Pontifikat Clemens’VII. (1523–1534) eingerichtet, und zwar in zwei verschiedenen Spielarten. Die so genannten „erlöschenden“ Berge gelten nur zu Lebzeiten des Anteilzeichners, können nicht vererbt werden und stellen daher eine Hochrisikoinvestition dar. Dementsprechend werfen sie eine fabulöse Rendite ab: bis zu 12%. Etwas für Finanzzocker also. Dieser Menschentyp aber wird zunehmend rar in Rom, in Italien, im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. Viel beliebter sind daher die „ewigen“ monti, die man getrost per Testament hinterlassen kann. Die einzige Gefahr, dass sie erlöschen könnten, besteht im theoretischen Rückkaufrecht der Kurie. Doch wann hatte man schon erlebt, dass ein Staat Schulden zu tilgen vermochte? Dementsprechend konnten die Konsortien die Anteile meist deutlich über dem Nennwert absetzen, manchmal sogar mit einem Aufschlag von einem Viertel. Daraus ergab sich, wie unschwer zu berechnen, eine hübsche Profitmarge. Bei standesbewussteren Geldanlegern noch höher geschätzt waren die so genannten „Kaufämter“. Noch älter als die monti, hüllten sie die schnöde Kredit-Zins-Operation in die Prunkgewänder einer öffentlichen Tätigkeit. Natürlich waren das des Kaisers neue Kleider. Der Kreditgeber durfte sich mit einem phantasievollen Titel – etwa Ritter des heiligen Petrus – schmücken, ohne damit irgendwelchen beruflichen Verpflichtungen zu unterliegen: alles Schall und Rauch, außer dem ‘Gehalt’, den Zinszahlungen also, versteht sich. Sie waren sehr real und lagen für die Lebenszeit- und Dauerämter in etwa in Höhe des „Bergorte“-Ertrags.

      Anno 1676 warfen die „ewigen Berge“ fünf oder sechs Prozent ab. Hochgerechnet auf die gesamte Staatsschuld waren das jährlich mindestens zweieinhalb Millionen scudi Aufwendungen allein für Zinsen. So viel aber brachte der ganze Kirchenstaat samt seiner Hauptstadt nicht ein. Dieses Jahresbudget weist 1674 gerade einmal einen Nennwert von 2,4 Millionen auf. Davon aber mussten sämtliche öffentlichen Ausgaben bestritten werden: die Gehälter der zahlreichen Amtsträger, Kosten für Verteidigung, Subventionen aller Art, nicht zuletzt für Brot, Ausgaben für Botschafter, Straßenbau etc., summa summarum Fixkosten von mehr als zweieinhalb Millionen. Dabei waren die Zinszahlungen in ungefähr derselben Höhe nota bene nicht miteinberechnet. Man hatte ein Gegenfinanzierungsproblem. Gewiss, das Papsttum hatte noch eine andere, verschwiegenere Kasse: die Datarie. Über sie wurden die so genannten Gnadenhandelsoperationen abgewickelt. Deren große Zeit fiel in den Pontifikat Alexanders VI. Anno 1500 konnte man Kardinalate noch meistbietend verkaufen; ein roter Hut brachte je nach Kaufkraft des Interessenten zwanzig- bis dreißigtausend Dukaten (d.h. inflationsbereinigt, auf das Jahr 1676 bezogen, an die hunderttausend scudi) ein. So lukrativ diese Verkäufe waren, ihre Nachteile lagen in der damit verursachten Rufschädigung: in der Zerstörung des religiösen Kapitals, ohne welches langfristig auch kein Geld mehr fließen würde. Und unter einem so skrupulösen, tief religiösen